© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

Verluste und Enteignungen
Ukraine-Krieg: Die westlichen Sanktionen sind in ihren Auswirkungen kaum zu überschauen
Thomas Kirchner

Als finanzielle Atombombe wollte Jake Sullivan die Sanktionen gegen Rußland einsetzen und so ein schnelles Ende des Ukraine-Krieges erzwingen. Die Strategie von Joe Bidens nationalem Sicherheitsberater ist gescheitert. Rußlands Wirtschaft expandiert zwar nicht, stürzt aber auch nicht ab. Der Rubel ist sogar noch stärker als vor dem Krieg, was die gestiegenen Kosten für Importe abfedert. Wie so oft finden sich stattdessen Unbeteiligte im Spinnennetz der Sanktionen gefangen, während andere sich als Profiteure eine goldene Nase verdienen.

Die westlichen Sanktionen sind vielschichtig und in ihren Auswirkungen kaum zu überschauen. Das Ziel, russische Zahlungen und Finanztransaktionen zu verhindern, wurde erreicht. Aber dabei schoß man über das Ziel hinaus. Inzwischen sind Enteignungen an der Tagesordnung. Beispielsweise sollten ursprünglich nur neue Finanzierungen für Rußland verhindert werden, was aus westlicher Sicht sinnvoll erschien. Allerdings wurden auch russische Zins- und Dividendenzahlungen an westliche Anleger verhindert. Das schadet nicht nur den Anlegern, die das ihnen zustehende Geld nicht bekommen, sondern hilft den russischen Schuldnern, die jetzt ihre Kredite zinsfrei haben.

Faktischer Schuldenerlaß für russische Oligarchen?

Wladimir Putins Oligarchen stecken die Milliarden in die eigene Tasche, die sie sonst westlichen Anlegern hätten überweisen müssen. Man kann bezweifeln, daß sie deswegen sauer auf ihren Präsidenten sind. Und weil Rückzahlungen der Anleihen nicht möglich sind, schaffen die Sanktionen einen faktischen Schuldenerlaß für russische Oligarchen. Die dadurch nicht stattfindenden Kapitalabflüsse wiederum tragen zur Stärkung des Rubels bei.

Aktuelles Beispiel ist der Stahlkonzern Evraz, der seine am 20. März fällige Anleihe über 750 Millionen Dollar trotz ausreichender Liquidität nicht zurückzahlen durfte – also ein vom Westen verordneter Schuldenerlaß. Roman Abramowitsch, dem 30 Prozent der Firma gehören, ist anteilig um eine Viertelmilliarde Dollar bessergestellt. Zusätzlich spart Evraz derzeit 77 Millionen Dollar jährlich an Zinsen auf Kosten der Anleihebesitzer. Als Reaktion auf die verhinderten Zins- und Rückzahlungen beginnen russische Emittenten mit dem Umtausch ihrer Anleihen in auf Rubel laufende Papiere. Gazprom hat bereits zwei kleinere, 2025 und 2027 fällige Anleihen umgetauscht. Ein Gesetzentwurf sieht den Zwangsumtausch aller Papiere vor. Westlichen Anlegern hilft das nicht, denn auch das russische Wertpapiersammeldepot NSD steht unter Sanktionen. Es scheint Teil einer Entflechtungsstrategie Moskaus vom internationalem Kapitalmarkt zu sein, „De-Offshoring“ genannt.

Es galt bislang als positiv, wenn Firmen aus Ländern wie Rußland ihren Firmensitz in einem Staat haben, der westlichen Rechtsstandards unterliegt: Zypern, die Kanalinseln Jersey und Guernsey oder einige Karibikinseln sind deshalb beliebte Firmensitze anlegerfreundlicher russischer, aber auch chinesischer Firmen. Die Russen beginnen nun mit der Verlagerung ihrer Firmensitze zurück in die Heimat. Seit Januar liegt in der Duma ein Gesetz bereit, wonach Aktionäre bei Repatriierung einer Firma eine Frist von nur sechs Monaten haben werden, ihre alten Anteile in neue umzutauschen.

Nicht fristgerecht umgetauschte Anteile gehen in den Besitz der Russischen Föderation über. Noch ist es nur ein Gesetzentwurf, doch er geht in die gleiche Richtung wie ein ähnlicher Vorschlag eines Verbands russischer Industrieller (RSPP). Enteignung ist also die Richtung, die auch Rußland einschlägt. Neuregistrierung von Eigentum als Verwaltungsakt zur Enteignung ist nicht neu. In anderen Ländern wird dies zur Enteignung ethnischer Minderheiten eingesetzt, die vertrieben werden, woraufhin die Grundbücher neu erstellt werden für alle Nichtvertriebenen. Rußland hat dies bereits 2014 bei Immobilien auf der Krim praktiziert, die im Besitz von Ukrainern und anderen Ausländern waren. Auch damals leistete der Westen Beihilfe zur Enteignung: Reisen auf die Krim zur Wahrung des Besitzanspruchs fiel unter die Sanktionen.

Ein Eigner von Hinterlegungsscheinen russischer Aktien fragte das FDP-Bundesfinanzministerium an, wie die Regierung denn Kleinanlegern helfen wolle, deren Hinterlegungsscheine für russische Aktien durch das Zusammenwirken von Sanktionen und russischen Gegenmaßnahmen enteignet werden (JF 6/23). Er wies insbesondere auf die seit Jahrzehnten von allen Bundesregierungen propagierte private Vermögensbildung hin. Deutschland ist in dem Bereich bekanntlich Schlußlicht in Europa. Das Ministerium von Christian Lindner gestand ein, daß auch Kleinanleger von den Sanktionen betroffen sein können, doch „eventuelle Ausgleichsansprüche bestehen hierfür nicht.“ Die Sanktionen „gelten vielmehr unmittelbar für jedermann.“ Die Antwort zeigt, daß sich in Berlin niemand um die Auswirkungen Gedanken macht.

Neben Privatanlegern auch BASF und Volkswagen direkt betroffen

Doch nicht jedermann ist mit den gleichen Konsequenzen konfrontiert. Die BASF-Tochter Wintershall beispielsweise hat insgesamt 7,3 Milliarden Euro in Rußland abgeschrieben. Doch für mindestens 1,8 Milliarden gibt es Investitionsgarantien des Bundes, und so wird wahrscheinlich ein Teil der Verluste durch den deutschen Steuerzahler ersetzt. Der Wolfsburger Volkswagen-Konzern streitet vor einem Gericht in Nischni Nowgorod an der Wolga um eine Beteiligung am Gemeinschaftswerk mit dem russischen Unternehmen Gaz in Kaluga, die eigentlich verkauft werden soll. Auch hier droht Enteignung. Ein russisches Schiedsgericht hat am 3. April die Pfändung des VW-Werks zwar zum Teil aufgehoben. Eingefroren bleiben allerdings finanzielle Beteiligungen.

Im nachhinein ist es leicht, alle auszulachen, die vor ein paar Jahren im guten Glauben in Rußland investiert haben. Doch kann sich ein Exportweltmeister nur auf Geschäfte mit garantiert friedlichen Skandinaviern und neutralen Schweizern beschränken? Überall sonst auf der Welt kann schon morgen ein mißliebiges Regime herrschen, das mit schweren Sanktionen belegt wird. Heute wird begeistert Gas in Katar gekauft, morgen kann die Großwetterlage schon anders sein. Die Defizite der westlichen Sozialstaaten werden heute von Handelsüberschüssen des globalen Südens finanziert. Aber nur solange der nicht Angst vor Enteignung durch Sanktionen haben muß.


EU-Sanktionen gegen Rußland im Detail:

 consilium.europa.eu