© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 16/23 / 14. April 2023

Alles Mullah, oder was?
Migration: Berlin setzt nach Warnungen vor Islamisten sein Aufnahmeprogramm für Afghanen aus
Christian Vollradt

Annalena Baerbock hat die Notbremse gezogen. Ende vergangenen Monats setzte das Auswärtige Amt (AA) das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan aus. Spät und nur vorübergehend, aber immerhin. Damit zog die Außenministerin endlich die Konsequenzen aus den Warnungen vor einer mißbräuchlichen Nutzung, die ihre Mitarbeiter vor Ort in der deutschen Botschaft in Pakistan bereits Ende Februar nach Berlin gekabelt hatten.

Das im Herbst 2022 vom Außen- und Innenministerium gemeinsam gestartete Programm ist gedacht für 40.000 nach der Machtübernahme der Taliban 2021 besonders gefährdete Afghanen und ihre Angehörigen. Darunter fallen 24.800 ehemalige Ortskräfte der Bundesrepublik – also Einheimische, die für die Bundeswehr oder die deutsche Entwicklungshilfe am Hindukusch tätig waren – und ihre Angehörigen sowie 15.300 Menschen, „die wegen ihres zivilgesellschaftlichen Engagements für eine freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet sind“, so der offizielle Sprachgebrauch. Im Dezember 2022 erging dann eine Aufnahmeanordnung aus dem Innenministerium, wonach das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) monatlich bis zu 1.000 Personen eine Aufnahmezusage erteilt.

Damals hatte ein Sprecher des AA das Bundesaufnahmeprogramm in den höchsten Tönen gelobt: Es sei etwas, das es „in dieser Form noch nie unter vergleichbaren Umständen gegeben hat.“ Denn man habe es auf die Beine gestellt auch „ohne  Arbeitsmöglichkeiten vor Ort, weil wir vor Ort in Afghanistan keine arbeitsfähige Botschaft haben“ und auch die üblichen Kooperationspartner des UN-Flüchtlingshilfswerks beispielsweise nicht zur Verfügung stünden. „Wir mußten dieses Programm wirklich völlig neu konzipieren – rechtlich, technisch und auch organisatorisch.“ Voraussetzung dafür, daß es nach Ansicht des Außenministeriums dennoch klappte, sei „die Mitarbeit und Teilnahme von ganz vielen engagierten Menschen aus  der Zivilgesellschaft, die sich im vergangenen Jahr schon unheimlich um die Rettung von Menschen aus Afghanistan verdient gemacht haben“, so der Ministeriumssprecher noch im Dezember. 

Tatsächlich arbeiten die beiden Berliner Ministerien bei der Auswahl der als schutzbedürftig deklarierten Afghanen mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie „Pro Asyl“, „Mission Lifeline“ oder „Kabul Luftbrücke“ zusammen. Diese politisch einschlägig verorteten Organisationen treffen als sogenannte „meldeberechtigte Stellen“ eine Vorauswahl, indem sie angeblich bedrohte Afghanen identifizieren und deren Daten dann an die Bundesregierung weitergeben. 

Zum Einsatz kommt dabei ein sogenanntes „Online-Tool“, bei dem mehr als hundert Fragen beantwortet werden müssen. Außer Daten zur Person geht es auch um medizinischen Behandlungsbedarf, die Lebensumstände, tätigkeitsbezogene Gefährdungen sowie eine „Vulnerabilität aufgrund  von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität“. Abgefragt wird auch eine Integrationsprognose. Die Antragssteller werden „gebeten, diese Angaben mit Dokumenten zu belegen“ – soweit das möglich sei. Das IT-System vergibt dann Punkte, nach denen eine individuelle Gefährdung eingestuft werden kann.

Nach einer ersten Überprüfung erhalten die Betreffenden eine Aufnahmezusage und können auf dieser Basis in der deutschen Botschaft in Pakistans Hauptstadt Islamabad ein Visum beantragen. Mit dieser engen staatlich-zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit habe man einen „neuen institutionellen Rahmen“ und „die beste Möglichkeit geschaffen, unter den  extrem schwierigen Umständen tatsächlich Menschen effektiv in Sicherheit  zu bringen“, lobte sich das AA seinerzeit selbst. Auch für Außenministerin Baerbock schien die Zusammenarbeit mit den NGOs der Stein des Weisen zu sein. Dadurch habe man die pragmatische Möglichkeit, „außerhalb von Behördenerlässen“ tätig zu werden. 

Nun aber kehrt Deutschlands Chefdiplomatin genau dazu zurück und erließ für ihre Behörde das – vorübergehende – Aus. Nach anfänglichem Zögern schenkte sie den Berichten ihrer beamteten Profis offfenbar doch mehr Glauben als denen, die sich zur Rettung von Welt und Menschheit berufen fühlen.  

In einem als Verschlußsache klassifizierten und vom deutschen Botschafter in Islamabad, Alfred Grannas, unterzeichneten Schreiben, aus dem die Zeitschrift Cicero zitierte, warnten die Diplomaten eindringlich vor einem Mißbrauch des Programms – auch durch Islamisten. Schon der Titel des Schreibens ließ aufhorchen: „Unterstützte Ausreise Afghanistan – Im Namen Allahs – Scharia-Richter für Deutschland?“ Demnach kamen den Botschaftsmitarbeitern im Laufe ihrer Arbeit vor allem erhebliche Zweifel, daß es sich bei den angeblich von den Taliban verfolgten Rechtsgelehrten wirklich um Juristen in unserem Verständnis handle.

„Etwa 50 Prozent dieser Gruppe sind nach Erfahrungen der Botschaft keine Richter und Staatsanwälte mit klassischer Ausbildung“, berichtete Botschafter Grannas, „sondern Absolventen von Koranschulen.“ Die seien nur geschult „im religiösen Rechts- und Wertesystem des Islam.“ Werde ihnen die Aufnahme in Deutschland zugesagt, so die eindringliche Warnung, unterstütze dies „die Unterwanderung unserer Rechtsordnung durch islamistische Kreise“.

Dies sei auch im Auftreten der Antragsteller und der Familienangehörigen während der Visa-

verfahren deutlich geworden, die nicht gerade den Eindruck erweckten, in Opposition zu den in Kabul herrschenden Islamisten zu stehen: „Frauen erscheinen beispielsweise komplett mit Burka/Niqab verschleiert und weigern sich bisweilen, zur Identifizierung ihren Schleier zu lüften.“ Und noch etwas machte die Mitarbeiter in der deutschen Botschaft stutzig: Daß „die Personengruppe keinerlei Probleme bei der Beschaffung von Dokumenten/Pässen oder Visa für Pakistan“ hatte. Würden die Taliban ihre innenpolitischen Gegner so einfach ziehen lassen? Zehn Einzelfälle würden in dem Schreiben aufgezählt, berichtet der Cicero. So stünden neben den Namen der Männer, die jeweils mit bis zu zehn Familienangehörigen in die Bundesrepublik wollen, Vermerke wie „Mullah mit Verbindung zu Taliban“, „Scharia-Richter“ oder „Mullah mit möglichem IS-Bezug“. Sie seien der Liste zufolge nicht nur von deutschen NGOs als gefährdet gemeldet worden, sondern sogar von Bundestagsabgeordneten.

Der deutsche Botschafter erkannte bereits ein Vierteljahr nach Beginn des Bundesaufnahmeprogramms dringenden Handlungsbedarf. Seine Empfehlungen an die Kollegen in Berlin: „Keine Aufnahmezusagen für Mitarbeiter des afghanischen Justizbereichs, sofern nicht Richter/Staatsanwälte mit klassischer juristischer Ausbildung.“ Bereits erteilte Zusagen sollten „unverzüglich“ zurückgenommen werden. Ausdrücklich warnte Grannas davor, die afghanischen Scharia-Richter seien ein Gefährdungspotential für andere Afghanen, die in Deutschland Schutz suchten: „Es erschließt sich aus Sicht der Botschaft nicht, weshalb Aufnahmezusagen für Personen mit radikal-islamischer Weltanschauung auf der einen Seite und LSGTBQi+-Angehörige auf der anderen Seite gleichermaßen vergeben werden können.“ 

Mit neuen Sicherheitsfragen Täuschungen verhindern

Protest gegen die Aussetzung des Programms gibt es natürlich auch. Vergangene Woche beschwerte sich beispielsweise die Neue Richtervereinigung, eine linke Nichtregierungsorganisation, die gemeinsam mit dem Partnerverein „Kabul Luftbrücke“ zu den Meldeberechtigten des Bundesaufnahmeprogramms gehört und in der Vergangenheit insbesondere für die Aufnahme von – tatsächlichen oder vermeintlichen – Juristen aus Afghanistan getrommelt hatte. Zwar befürworte man Sicherheitsprüfungen, „sofern das neue Verfahren gemäß internationalen Standards unter Wahrung der Rechte der Schutzsuchenden durchgeführt wird“, heißt es in einer Pressemitteilung. Weil aber die Visavergabe bis auf weiteres gestoppt wurde, „wird in Folge die Mehrzahl der Schutzsuchenden weiteren Gefahren“ ausgesetzt. Die Bundesregierung habe über ein Jahr lang Zeit gehabt, ein angemessenes Prüfungsverfahren in ihren Botschaften aufzusetzen. Durch „dieses erneute Regierungsversagen“ würden nun über tausend Menschen in Nachbarländern feststecken. 

Nicht erwähnt wird dabei, daß es gerade die deutschen NGOs waren, für die das Bundesaufnahmeprogramm gar nicht schnell genug losgehen konnte und die – auch mit Schützenhilfe aus den Medien – Druck auf die Bundesregierung machten. Außerdem ging es manchen Kritikern sogar schon zu weit, daß die zivilgesellschaftlichen Organisationen noch zwischengeschaltet waren; ginge es nach ihnen, sollten sich die ausreisewilligen Afghanen selbst im Onlineportal anmelden können.

Dabei waren zwischen dem 1. August 2021 und Anfang November 2022, also noch vor dem eigentlichen Beginn des Bundesaufnahmeprogramm, über 3.500 afghanische Ortskräfte mit ihren Familienangehörigen (insgesamt 16.500 Personen) und rund 2.000 besonders gefährdete Personen plus Familienangehörige (insgesamt über 8.000 Personen) aufgenommen worden. Bis Mitte Oktober 2022 hatte die Bundesregierung insgesamt 38.100 Personen eine Aufnahme in Deutschland zugesagt; 26.000 Ortskräfte und besonders gefährdete Personen aus Afghanistan konnten bereits nach Deutschland einreisen. Außerdem haben Thüringen und Hessen beispielsweise noch eigene Aufnahmeprograme für Afghanen. 

Deutlich skeptischer gegenüber der Idee, monatlich tausend gefährdete oder angeblich gefährdete Afghanen auf Empfehlung von linken Nichtregierungorganisationen aufzunehmen waren bereits im vergangenen Oktober beispielsweise die Landesregierungen von Sachsen und Sachsen-Anhalt: Aus Dresden hieß es seinerzeit, die bestehenden Aufnahmeprogramme für Ortskräfte sowie die allgemeinen Asylregelungen seien schon ausreichend geeignet, um verfolgten Personen Schutz zu gewähren. Für den Freistaat sieht der Verteilungsschlüssel vor, etwa fünf Prozent der Ankömmlinge aus Afghanistan aufzunehmen, was bei den im Programm avisiserten Zahlen etwa 50 Afghanen monatlich bzw. 600 pro Jahr bedeuten würde. Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschang (CDU) hatte seinerzeit dem MDR gegenüber zu bedenken gegeben, daß die Kommunen nun noch zusätzliche Aufnahmen „in einer ohnehin schon sehr angespannten Situation bewerkstelligen“ müßten. Die Magdeburger Ressortschefin kritisierte zudem das Auswahlverfahren als unklar. Damit geben ihr ein halbes Jahr später die aktuellen Vorgänge recht. 

Aus dem AA heißt es nun, das Verfahren werde überarbeitet und solle in Kürze wieder starten. Eingeführt werde nach Absprache mit dem Bundes-innemisterium eine zusätzliche Sicherheitsbefragung, durch die Täuschungsversuche unterbunden werden sollen. Unabhängig von diesem Aufnahmeprogramm stellen Afghanen mit 16.712 Asylanträgen allein im Zeitraum von Januar bis März dieses Jahres nach den Syrern die zweitgrößte nationale Herkunftsgruppe.