Die Debatten über Great Reset und Neue Weltordnung, die eher einer wachsenden „Weltunordnung“ (Carlo Masala) gleicht, laufen derzeit auf Hochtouren. Zu den lesenswerten Abhandlungen über diese Thematik gehört die Schrift des ehemaligen FAZ-Redakteurs Christian Hiller von Gaertringen.
Keine Publikation über das Thema kann davon absehen, einen Bogen zu schlagen von den Ereignissen um 1990 bis zu den Umbrüchen der unmittelbaren Gegenwart, konkretisiert in den Epochenbegriffen Corona-Krise und Ukraine-Krieg. Vor über drei Jahrzehnten konnte man sich keine Ordnung der Welt vorstellen, an deren Spitze nicht die USA stehen. Dieses Licht ist längst erloschen. Inzwischen ist unstrittig, daß wir am Beginn eines stärker multipolaren Aufbaus der Welt stehen. Hiller von Gaertringens Erörterungen setzen mit der Beschreibung dieser Umbrüche ein.
In Umrissen ist zu erkennen, wie die künftige Globalordnung aussehen wird. Daß der demographisch meßbare „Abstieg des Westens“ (Joschka Fischer) parallel verläuft zum Aufstieg anderer Mächte, vornehmlich in Asien, während sich der taumelnde Riese Rußland gegen seinen Ruf als bloße Regionalmacht wehrt, beschreibt nur einen Teil der weltweiten Neusortierung. Der Autor zeigt exemplarisch rund um den Erdball, daß sich komplexere Strukturen jenseits der medial vielbeachteten Auseinandersetzungen zwischen den Duopolisten USA und China abzeichnen.
Länder mit erstaunlicher ökonomischer Wachstumsdynamik
Eine Reihe von Schwellenländern hat in den letzten Jahren positive wirtschaftliche Entwicklungen an den Tag gelegt: Indien, Südafrika, Nigeria, Bangladesch, Kenia und andere weisen, ungeachtet vieler hemmender Faktoren, eine erstaunliche ökonomische Wachstumsdynamik auf. In den kommenden Jahrzehnten werden vielfältige Zweige in Produktion und Dienstleistung in diese und andere Schwellenländer verlegt werden. Deren Bevölkerungsstruktur ist tendenziell jung und leistungsfähig. Die Digitalisierung verändert dort rasch die Lebensbedingungen.
Der Autor belegt solche Wandlungen unter anderem am Beispiel des Überweisungsservices M-Pesa in Kenia – eine Dienstleistung, die sich mittlerweile in ganz Afrika durchgesetzt hat und finanzielle Transaktionen wesentlich vereinfacht. Die dadurch initiierten Folgeprozesse sind bemerkenswert. Selbst bekannte europäische Unternehmen werden mittlerweile von Wirtschaftsriesen manchmal immer noch so genannter Entwicklungsländer übernommen. Besonders die Herausforderungen im Bildungswesen werden beleuchtet. Es bleibt abzuwarten, ob und inwiefern die unterschiedlichen Regionen der Welt die vierte industrielle Revolution bewältigen, die den Alltag der Menschen überall grundlegend umkrempeln wird. Das Ringen um internationalen Einfluß beschreibt Hiller von Gaertringen anschaulich.
Im letzten Abschnitt werden Überlegungen zur neuen Rolle des Westens angestellt. Eine ausdifferenzierte multipolare Weltordnung ist nicht nur ein theoretisches Konstrukt von Journalisten; vielmehr sind die Konsequenzen nachhaltig: Deglobalisierende Tendenzen in der Ökonomie, während der Corona-Zäsur angesichts abbrechender Lieferketten intensiv diskutiert, bedeuten auch, daß sich Produktion und Verkauf nicht nur am Preis orientieren können und die Standortfrage höchstens sekundär ist. Unentbehrliche Güter müssen zunehmend wieder dort hergestellt werden, wo sie benötigt werden, auch aus Gründen des Umweltschutzes.
Was in der inspirierenden Studie fehlt, ist eine tiefergehende Problemanalyse: Gerade Deutschland ist für die multipolare Neuausrichtung schlecht gerüstet. Eigene Halbleiter werden hierzulande nicht hergestellt. Bei wichtigen pharmazeutischen Produkten sind wir auf asiatische Zulieferer angewiesen. Weitere Industriezweige werden durch die törichte Energiepolitik ins Ausland verlegt werden. Die Sicherung des Energiebedarfes ist ungewisser denn je. Daß das Gewicht europäischer Staaten schwindet, ist nicht nur dem Aufstieg der anderen geschuldet.
Christian Hiller von Gaertringen: Die Neuordnung der Welt. Der Aufstieg der Schwellenländer und die Arroganz des Westens. FinanzBuch Verlag, München 2022, gebunden, 262 Seiten, 22 Euro