Das Buch „Wir sind durch!“ schildert die spektakuläre Flucht von 26 britischen Offizieren aus einem Gefangenenlager im oberschwäbischen Biberach/Riß. Dort waren von Juni 1940 bis Oktober 1941 etwa 1.100 Offiziere nebst Ordonnanzen untergebracht. Sie gehörten zu der im September 1939 aufgestellten britischen Expeditionsarmee, die bis Mai 1940 auf 394.000 Soldaten in zwölf Divisionen angewachsen war und in Nordfrankreich und Belgien stationiert war. Die meisten konnten sich nach dem Zusammenbruch der alliierten Front − infolge schwächelnder französischer Streitkräfte − auf Schiffen der Royal Navy über den Ärmelkanal retten. Die in Biberach inhaftierten Soldaten waren am 30. Mai 1940 von deutschen Panzerverbänden bei Watou/Belgien etwa dreißig Kilomter vor Dünkirchen umzingelt und zur Aufgabe gezwungen worden.
Akribisch beschreibt Autor Stefan R. Rasser die Motive und Vorbereitungen der im selben Lagergebäude untergebrachten Offiziere. Flucht sei „einer der selbstverständlichsten und kraftvollsten Wege“ gewesen, Widerstandsgeist zu demonstrieren. Eini-ge von ihnen hätten im Vereinigten Königreich „eine Ausbildung erhalten, wie man eine Flucht erfolgreich organisiert und ausführt“. Zudem hätten die Offiziere den Ausbruch als ehrenvolle soldatische Pflicht empfunden, „unter anderem deshalb, weil für den Feind die Kosten und der militärische Aufwand zur Gefangennahme und Rückführung der Geflüchteten hoch waren“.
Die Gefangenen entschieden sich für den Bau eines 55 Meter langen Fluchttunnels aus dem Gebäude, ausgehend von einem Schacht mit einem Meter Tiefe. Dieser wurde, für die deutschen Wachen nicht auf Anhieb sichtbar, unter einem beweglichen Ofen in den Boden getrieben. Das gesamte Projekt war mit geologischen und technisch-physikalischen Unwägbarkeiten behaftet, die sich um die Werkzeugbeschaffung, den möglichst unauffälligen Verbleib der ausgehobenen Erdmassen sowie die Versorgung mit Sauerstoff und elektrischem Licht rankten.
Nur vier von 26 ausgebrochenen Briten erreichten die Schweiz
Gefahr drohte den Offizieren auch durch einfallendes Erdreich, das nur mühsam durch stützende Bretter zurückgehalten werden konnte: „Jedesmal, wenn ein Brett herunterfiel und eine Extraportion Erde herunterkam, schien es, als würde der gesamte Tunnel einstürzen. Und dann war da immer die entsetzliche Angst, lebendig begraben zu werden“ (Stefan R. Rasser). Letztlich gelang aber der Ausbruch durch den im Querschnitt 55 mal 45 Zentimeter großen Tunnel. Am 13. September 1941 krochen die 26 Briten unbemerkt hinter dem Lagerzaun ins Freie, um sich einzeln oder paarweise auf den Weg zur hundert Kilometer entfernten Schweizer Grenze zu machen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war ihr ständiger Begleiter. Nur vier Geflüchtete erreichten nach zwei Wochen das neutrale Nachbarland und gelangten von dort in die britische Heimat. Alle anderen wurden Stunden oder Tage nach dem Ausbruch gestellt und ins Lager zurückgebracht, ohne dort nennenswerten Repressalien ausgesetzt zu sein.
Dramatischer endete ein weiterer Biberacher Fluchtversuch im Oktober 1941. Ein unbewaffneter britischer Leutnant wurde trotz erhobener Hände gezielt von einem Wachmann erschossen – ein schweres Vergehen nach dem Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen (1929), das vor der UN-Kommission für Kriegsverbrechen in Abwesenheit beider Angeklagter verhandelt wurde. Der als Haupttäter angeklagte Lagerkommandant wählte 1945 in Posen angesichts der näher rückenden Roten Armee den Freitod.
Stefan R. Rasser, bislang nicht als Historiker hervorgetreten, ist ganz auf sein Thema fokussiert. Hintergrundinformationen zum Kriegsgeschehen fehlen weitgehend. Beiläufig verweist er auf den Ausbruch alliierter Offiziere aus dem Stammlager Stalag Luft III in Sagan/Niederschlesien 1944, der Hollywood zum Filmstreifen „Gesprengte Ketten“ (1963) animierte. Unerwähnt bleibt die kühne Flucht des Jagdfliegers Franz von Werra Anfang 1941 aus Kanada über den zugefrorenen Sankt-Lorenz-Strom in die damals offiziell noch neutralen USA. Von Werra kehrte zur deutschen Luftwaffe zurück, kam aber im Sommer 1941 zu Tode, als sein Flieger mit Motorschaden abstürzte.
Leider gibt es kaum Literatur zum Thema „Flucht aus Gefangenenlagern des Zweiten Weltkriegs“, erst recht keine systematische Darstellung. Rassers lebendig und spannend geschriebenes Büchlein beruht auf Tagebucheinträgen und weiteren Dokumenten der geflüchteten Offiziere sowie auf Kontakten des Autors mit deren Angehörigen. Frei von jeglicher Geschichtspolitik leistet es einen wichtigen Beitrag zur Schließung einer historiographischen Lücke.
Stefan Rasser: Wir sind durch! Die spektakuläre Flucht britischer Offiziere aus einem Gefangenenlager in Biberach/Riß 1941. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2022, broschiert, 149 Seiten, 18,90 Euro