© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/23 / 06. April 2023

„Wir sollten ja nicht leben“
Ein Symposium in Berlin mit Beteiligung von Zeitzeugen widmete sich dem Schicksal der ostpreußischen „Wolfskinder“ nach 1945
Martina Meckelein

Johanna Rüger tupft sich mit einem Taschentuch die Tränen ab. Und dabei lächelt sie. Der Anblick schneidet ins Herz. „So, jetzt soll ich erzählen, wie es war. Wissen Sie, Kinder verrohen schnell. Und dann gibt es Kinder, die wollten nicht leben und Kinder, die wollten unbedingt leben.“ Johanna Rüger wollte unbedingt leben. Als die Russen kamen, war sie elf Jahre alt, das ist 81 Jahre her. Johanna Rüger ist ein Wolfskind.

Die Bundeszentrale für politische Bildung und die Gesellschaft für bedrohte Völker hielt Mitte März in Berlin ein achtstündiges Symposium zu Wolfs- und Kriegskindern im und nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Es ging unter anderem um Verfolgungserfahrung unter deutscher Besatzung, und um polnische und sowjetische Kinderzwangsarbeiter. Im öffentlichen Teil, ab 19 Uhr, kamen dann aber ganz besondere Zeitzeugen zu Wort: Wolfskinder aus Ostpreußen.

Etwa 35.000 Waisenkinder zogen 1945 bettelnd durch Ostpreußen

Es gibt keine genauen Zahlen über die vielen Kinder, die es aus den deutschen Ostgebieten nicht mehr in den Westen schafften. Insgesamt waren zwischen 12 und 14 Millionen Deutsche zwischen Oktober 1944 und 1945 auf der Flucht vor den Sowjets oder wurden danach vertrieben. Besonders schwierig war die Lage im äußersten Nordosten des Reichsgebietes, wo seit Januar 1945 über 250.000 Deutschen der Fluchtweg zu Lande abgeschnitten war. Die Kriegsmarine evakuierte zwar noch von Pillau bis zum 25. April und von der Halbinsel Hela – das letzte Boot fuhr am 8. Mai –, doch auch die Küste zu erreichen war für viele Flüchtlinge unmöglich. Sie verblieben in Ostpreußen, knapp die Hälfte davon in Königsberg. „Die bisherigen Forschungen gehen von etwa 35.000 hungernden Waisenkindern aus, die nach dem Krieg bettelnd in der brachliegenden Zone Nord-Ostpreußens umherliefen“, so Christian Hardinghaus in dem Buch „Das Wolfsmädchen“. Zwischen 1946 und 1948 seien mindestens 20.000 von ihnen zeitweise nach Litauen gefahren. Zahlenangaben, „die deutlich darunterliegen, ergeben sich aus strengeren Kriterien, die von einigen Stellen definitorisch herangezogen werden.“ Wie viele überlebten, weiß man nicht. Die Überlebenden bettelten oder arbeiteten in Litauen. Manche wurden adoptiert, mußten allerdings ihre deutsche Identität verleugnen. Sie bekamen andere Namen, und mit der Zeit vergaßen sie ihre deutschen Wurzeln. Denn dies war der einzige Weg, um die aufnehmende Familie vor einer Deportation nach Sibirien zu schützen.

Die Väter als Soldaten an der Front, in Gefangenschaft oder gefallen. Die Mütter vor ihren Augen vergewaltigt, verschleppt, erschlagen, erschossen oder verhungert. „Meine Mutter war Jahrgang 1915, damals im besten Alter“, sagt Johanna Rüger, die 1934 in Rostau geboren wurde. Doch Rüger geht fast lakonisch darüber hinweg. „Als die Russen genug von den Frauen hatten, plünderten sie Ostpreußen. Klaviere, schöne Möbel, alles transportierten sie nach Brest ab. Tja, und dann kamen kleine Russenkindchen zur Welt“, sagt Rüger. Viele Neugeborene überlebten nicht, manche kleinen Körper konnten nicht bestattet werden. „Sie wurden auf den Misthaufen geworfen“, erinnert sich Rüger, die heute in Chemnitz lebt. Ganz leise schwingt dieser alte gemütlich anmutende ostpreußische Singsang in ihrer Stimme. Ein Bild hat sich in ihr Gedächtnis gebrannt: „Noch lange guckte ein Händchen aus einem Misthaufen raus, das machte uns als Kindern nichts aus.“

Um dem Hunger zu entfliehen, mußten die Kinder nach Litauen gelangen. Ostpreußen, die „Kornkammer des Reiches“, war zerstört. Die Russen hatten das Land in Nord und Süd geteilt. Die Grenze in den Teil unter polnischer Verwaltung wurde schwer bewacht und war schwer zu überwinden. Die letzte Ernte 1945 mußten die gefangengenommenen deutschen Frauen für die Sowjets einbringen. Johanna Rügers Mutter mußte lernen, mit Pferden umzugehen und dann die mit Getreide vollbeladenen Fuhrwerke wochenlang Richtung Brest-Litowsk lenken. Ansonsten war das Land zerstört. Ein Weg, der den Hauch einer Überlebenschance bot, führte die Kinder nach Litauen. Dabei legten die Kinder Strecken von bis zu 250 Kilometer zurück. Der Zweck dieser gefährlichen Unternehmungen war, Nahrung zu erbetteln, um sie dann zu ihren Familien nach Ostpreußen zu bringen. Gebettelt wurde in einem Umkreis von bis zu zwanzig Kilometer rund um einen Bahnhof, so der Historiker Christopher Spatz, der zu Zwangsmigration im östlichen Mitteleuropa forscht.

Mit etwas Geschick sprangen sie auf die Puffer der Güterzüge von Insterburg nach Tilsit. „Wir sprangen dort auf, wo die Züge langsamer fuhren“, erinnert sich die alte Frau. „Doch manchmal zogen uns die Russen wieder runter, wir sollten ja sterben“, sagt sie. In Tilsit sind sie wieder vom Zug abgesprungen, über die Memel ging es weiter nach Tauroggen. „Die kleinen Kinder weinten, die waren doch Jahrgang 1939“, und während sie das erzählt, fließen ihr die Tränen. „In Tauroggen hat sich unsere Gruppe geteilt“, sagt sie. „Es ging uns gut in Litauen, aber es kann auch sein, daß ich das ganz Schlimme erlebt habe“, ergänzt sie sogleich. Das klingt wie eine sich selbst gestellte Frage, und sie scheint die Ahnung einer Antwort kurz in ihren Erinnerungen zu suchen – vergebens. Schnell sagt sie dann: „Ich bin jedenfalls den Litauern dankbar.“ 

Die Kindergruppe, mit der Rüger unterwegs war, schlief im Wald. Am Tag bettelten sie bei den Bauern. „Wir haben gebettelt, nie gestohlen“, darauf legt sie Wert. Doch nicht immer fanden sie Menschen, die mit den verlausten und dreckigen Knirpsen Mitleid hatten. „Wir haben Gras gegessen, manchmal drei Eicheln. Wenn der Hunger zu groß wurde, haben wir einen Kieselstein in den Mund gesteckt und gelutscht. Das hilft“, sagt sie. Es klingt wie ein Rat für spätere Generationen.

Manche Litauer schwangen die Peitsche, andere päppelten sie auf

Nicht nur die Kinder leben im Wald, auch Partisanen. Litauer, die gegen Russen kämpfen. Die Bauern selbst hatten Angst vor der Roten Armee und Deportationen. Johannas kleine Schwester bleibt bei einem Bauern, der die Kleine päppelt. Im April holt sie das Kind wieder ab. Sie wandern nach Kaunas weiter. „Die Stadt war überfüllt mit Bettelkindern“, erinnert sie sich. „Wir konnten nicht mehr gehen, saßen auf den Stufen einer Kirche oder eines Klosters. Die Nonnen oder Diakonissen, das erinnere ich nicht, haben uns aufgenommen. Die haben unsere Kleider gewaschen, uns in Zinkwannen gesetzt und uns abgeschrubbt. Und dann gaben sie uns Kleider und verschiedene Paar Schuhe.“

Klaus Weiß ist drei Jahre jünger als Johanna Rüger. „Ich bin aus Ostpreußen“, stellt er sich vor. Heute lebt er in Pattensen bei Hannover. „Hunger, Typhus, Tote, Läuse – alte Menschen starben wie die Fliegen“, schildert er den Zusammenbruch 1945 und 1946. Weiß lebt bei einer Pflegefamilie bei Königsberg, seine Eltern sind im KZ Mauthausen, dort stirbt auch sein Vater. Auf der Flucht schneidet die Rote Armee dem Treck den Weg ab, die Frauen werden von Russen vergewaltigt. Alle müssen zurück Richtung Königsberg. „Wir haben von Mäusen angefressenes Getreide eingesammelt und in Kaffeemühlen gemahlen.“ Hunger, immer wieder Hunger. Ein Kind von neun Jahren ist er, als er nach Litauen flieht. Mit einer Fähre über die Memel. „In Heydekrug bin ich einfach auf ein Fuhrwerk gesprungen. Manche Litauer haben uns mit der Peitsche runtergejagt, manche nahmen uns einfach mit. 1947 nimmt ihn eine Bauersfamilie auf. Der Sohn der Familie wurde von den Russen nach Sibirien deportiert. Die Frau gibt ihm zu essen. „Ich habe die ganze Schüssel ausgelöffelt, und dann fragte sie mich, ob ich noch mehr haben wollte.“ Weiß kommt bei dieser Erinnerung ins Stocken. Er bleibt bei der Familie. „Die Frau war wunderbar, ich habe sie sehr liebgehabt.“ Im Mai 1948 wird die Familie, wie viele Bauern im nun von Stalin kontrollierten Baltikum als „Kulaken“ verfolgt, nach Sibirien verschleppt. Klaus Weiß geht wie selbstverständlich mit nach Krasnojarsk. Es ist das Jahr, in dem Johanna Rüger, sie war wieder in Ostpreußen, nach Mitteldeutschland transportiert wird. Die Sowjets entledigen sich der ostpreußischen Kinder, die das Elend überlebten.

In Sibirien beginnt für Klaus Weiß wieder der Hunger. „Für Kinder gab es 200 Gramm Brot, für Arbeiter 500 Gramm. Das war glitschig, das mußten wir erst einmal kneten, bevor wir es aßen.“ Es gibt Läuse, gegen die heiße Saunen helfen und Moskitos. „In Rußland bin ich eingeschult worden“, sagt er. Mitte der fünfziger Jahre erreichen Klaus Weiß Briefe seiner leiblichen Mutter. Sie hat ihn über das Rote Kreuz aufgespürt. Er wird sie jedoch niemals wiedersehen. Sie stirbt, bevor er 1966 nach Deutschland umsiedelt.

Zwei Repatriierungswellen der Sowjetunion ermöglichten es Wolfskindern in Litauen, zurück zu ihren verbliebenen Familien nach West- und Ostdeutschland zu reisen: 1947/48 und 1951. Nach Stalins Tod 1953 melden sich bis in die siegziger Jahre Hunderte Deutsche, die ausreisen wollen. Doch Hunderte schweigen weiterhin beharrlich über ihre Wurzeln. Erst nach der Unabhängigkeit Litauens im Jahr 1990 melden sich wieder Wolfskinder bei der deutschen Botschaft. Ein langwieriger Prozeß, denn sie haben keine Papiere mehr. Deutsche in Litauen sind seit 1991 im Verein „Edelweiß“ organisiert. Luise Quitsch ist seit 1997 Vorsitzende des Vereins, der sich heute „Edelweiß-Wolfskinder“ nennt. Zu Beginn gab es 250 Mitglieder, heute noch 26. „Die letzte Dame kam vor vier Jahren zu uns“, sagt sie. Als Quitsch ihre erste Reise nach Deutschland für ihre Mitglieder organisierte, fragten einige: „Das ist gut, aber gibt es da auch etwas zu essen?“

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