Alte weiße Männer, die in Anzug und Krawatte zu deutscher Rapmusik tanzen und dabei Hunderttausende unterhalten: Was klingt wie Satire, ist auf der Plattform TikTok längst Realität. Das Medium hebelt die Verhaltensregeln aus, die einst auf Facebook oder Instagram galten. Für die Social-Media-Teams der Politriege ergibt sich daraus eine ungeahnte Fülle neuer Werkzeuge, einsetzbar als Sympathiegarant oder Shitstorm-Auslöser. Manchem Politiker verhilft das zu unverhofftem Ruhm und Tausenden Klicks, manch anderer wird im Netz zur Lachnummer. Neben den Shootingstars der üblichen Parteien kann vor allem ein Außenseiter punkten – die AfD.
Dieser Erfolg läßt sich auf TikTok an den Reaktionen in den Kommentaren sowie an Likes und Teilungen messen. Üblicherweise gilt: Je mehr, umso besser. Das ist auch auf der chinesischen Plattform nicht anders. Eines hat sich jedoch geändert: Wurde die positive Zustimmung in den übrigen sozialen Netzwerken noch häufiger über tatsächliche Inhalte generiert, bietet TikTok ein viel leichteres Mittel: Kurzvideos, mit knalliger Musik untermalt, in denen man über den politischen Gegner herzieht.
Bei den Jugendlichen kommt das an. Der CDU-Politiker Uwe Dorendorf hat insgesamt 121.000 Follower und konnte bislang 2,9 Millionen Likes einheimsen. Für Dorendorf, als Mitglied des Niedersächsischen Landtags auf Bundesebene eher unbekannt, ergibt sich so die Möglichkeit, deutschlandweit auf sich aufmerksam zu machen. Seine Likes gewinnt er mit Videos, in denen er zu Rapmusik tanzt. Dazu prangt der Schriftzug: „Lieber ein Haus im Grünen als einen Grünen im Haus“. Oder damit, sich vor ein Wahlplakat der Grünen zu stellen und den im Hintergrund laufenden Tonschnipsel „Oh, riecht nach Opfer“ karaoke-ähnlich mitzusprechen. Politische Inhalte lassen sich neben den Provokationen des Gegners kaum finden.
Unbekannte und Diffamierte können plötzlich punkten
Auch Wolfgang Heubisch von der FDP, Vizepräsident des Bayerischen Landtags, kann damit eher selten aufwarten. Seine Kurzclips zielen neben denen aus dem politischen Alltag ebenso darauf ab, den Gegner polemisch zu attackieren – egal ob CSU oder AfD. Die Strategie ist dieselbe: Steife Tanzbewegungen und hippe Popsongs im Hintergrund dienen als Garant für Erfolg. Heubisch sammelt so immerhin stolze 117.000 Follower und 3,6 Millionen Likes hinter seinem Profil.
Doch Vorsicht! Wer sich überschätzt, hat einen echten Shitstorm zu fürchten. Zu spüren bekam das im vergangenen Jahr die FDP-Bundestagsabgeordnete Kristine Lütke. Nach der Abstimmung zur Abschaffung des Paragraphen 219a StGB, postete sie ein Video, das ihr Team zeigt, wie es mit Sonnenbrillen und bunten Lichtern zu dem Song „Short Dick Man“ das Ergebnis des Votings feiert. Der Tod von Föten kombiniert mit Partystimmung: Für viele Bürger war das zuviel. Die 40jährige Lütke mußte sich viel Kritik für den geschmacklosen Post gefallen lassen und löschte ihn kurze Zeit später wieder.
Ebenso mit Gegenwind konfrontiert sah sich im März vergangenen Jahres Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Die Sozialdemokratin postete ein Video aus ihrer Corona-Quarantäne, das sie mit dem Rolf-Zuckowski-Song „Ich schaff das schon“ unterlegte. Statt mit Coolness zu punkten, machten sich nicht wenige über die Politikerin lustig. Ihres Amtes nicht würdig, lautete der Vorwurf von konservativer Seite.
Die AfD macht es besser – oder zumindest auf dem Papier erfolgreicher. Parteichefin Alice Weidel kommt insgesamt auf 176.500 Follower bei 912.000 Likes. Der Fraktionsvorsitzende der AfD in Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, erreicht sogar 280.000 Follower und 2,9 Millionen Likes. Das zeigt: Die Regeln der übrigen Medienblase scheinen für TikTok nicht zu gelten. Hier können nicht nur „böse“ anzugtragende Cis-Männer wie Dorendorf oder Heubisch ein neues Publikum erreichen, sondern selbst die unter der Generation Z oft verpönte AfD. Aufmerksamkeit generieren, eine neue Wählerschaft ansprechen, Stimmung gegen andere Parteien erzeugen: All das schafft die Alternative. Doch im Gegensatz zu den anderen Parteien geschieht das nicht nur über die Accounts der Politiker selbst, sondern auch in Form von Fanpages oder scheinbaren Otto-Nomalverbraucher-Konten, die Inhalte erneut aufgreifen. Allein für Weidel existieren über 20 Fanseiten auf der Plattform.
Es sind also nicht nur die Nutzer erfolgreich, die das Mittelmaß zwischen Peinlichkeit und coolem Influencertum erwischen, sondern auch diejenigen mit der größten Anhängerschaft im Nacken. Bei den Videos, die oft nur wenige Sekunden andauern, spielt die politische Agenda des Protagonisten vorübergehend keine Rolle – Hauptsache, der Spruch ist knackig. Für die Politiker bedeutet das Sprungbrett und Planke zugleich, für die AfD ist die Plattform sogar Teil der Zukunftsstrategie. Etwas Positives im demokratischen Umgang miteinander wird der Ausverkauf politischer Inhalte durch die Clips vermutlich jedoch nicht mit sich bringen.
Schon jetzt versucht man zudem von politischer Seite gegenzusteuern. Ende Februar verbot zuerst die EU-Kommission die Nutzung von TikTok auf Diensthandys, einen Tag später zog das EU-Parlament nach. Auch auf den Diensthandys ranghoher deutscher Politiker und Regierungsbeamter ist die chinesische App nicht nutzbar, zeigt eine Umfrage des Tagesspiegel. Einzige Ausnahme – allerdings über eine externe Agentur – stellt das Bundesgesundheitsministerium dar, das die Anwendung während der Corona-Pandemie zur Informationsverbreitung gebrauchte.
Kurz zuvor hatten die Vereinigten Staaten und Kanada ein gänzliches Verbot auf Regierungshandys beschlossen. Hauptgrund für die Eingriffe ist vor allem die Befürchtung, daß die Kommunistische Partei Chinas die Plattform als trojanisches Pferd nutzen könnte, um an Daten von Bürgern und Behörden zu gelangen. Nicht ganz unbegründet: Im Dezember mußte der TikTok-Mutterkonzern Bytedance, der die Vorwürfe ansonsten entschieden zurückweist, eingestehen, unerlaubt auf Daten von britischen und US-amerikanischen Journalisten zugegriffen zu haben, um eine angebliche Informationslücke ausfindig zu machen.
Mitte März wurde TikTok-Chef Shou Chew bei einer Anhörung vor dem US-Kongreß stundenlang in die Zange genommen. Ein weiterer Vorwurf dabei: Die App sei außerdem ein Portal „für Drogendealer, die unsere Kinder vergiften“. Obwohl Chew die Unabhängigkeit von der chinesischen Regierung beteuerte, steht sogar ein generelles Verbot der App auf dem amerikanischen Markt im Raum, sollte Bytedance nicht alle seine Anteile an einen US-Konzern wie Microsoft oder Oracle verkaufen. Bereits Ende Februar hatte der Auswärtige Ausschuß im US-Repräsentantenhaus einen entsprechenden Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht. Doch die Abwehrhaltung bröckelt bei einigen Politikern – wie der linken Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez –, weil sie TikTok selbst erfolgreich für die Ansprache junger Wähler nutzen.
Faeser sieht keine Grundlage für ein Verbot
In Deutschland bereitet die Datensammelwut aus dem Reich der Mitte insbesondere dem Verfassungsschutz Sorgen. „Wenn Sie sich Umfang der Daten, der Metadaten, der Inhalte bei TikTok anschauen auf der einen Seite, und wenn Sie sich dann auch anschauen, welche Einflußmöglichkeiten staatliche Stellen auf solche Unternehmen haben, dann kann das nur Bauchschmerzen auslösen. Und die habe ich“, sagte der Vizepräsident des Inlandsgeheimdienstes, Sinan Selen, Ende März am Rande einer Berliner Veranstaltung zu Spionage, Sabotage und Cyberrisiken für die deutsche Wirtschaft. „Wir sind im Ausmaß dessen, worauf staatliche Stellen, gerade in China Zugriff nehmen können, nicht klar genug – ich glaube, das ist das Kernproblem bei der ganzen Sache.“
Dennoch sieht Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bisher keine Grundlage für ein Allgemeinverbot und setzt auf verstärkte Aufklärung darüber, daß TikTok eine Firma sei, bei der „die Daten natürlich abfließen können“. Zur Vollständigkeit gehört allerdings: Dies kann dank der aufgedeckten angloamerikanischen Überwachungsmethoden auch bei Facebook & Co. der Fall sein.