© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/23 / 06. April 2023

Streit um staatliche Fördergelder
Verdeckte Pressefinanzierung: Das Landgericht Berlin stoppt die Kulturzeitschrift „Sinn und Form“
Paul Leonhard

Wie zu tiefsten Regimezeiten lesen Autoren wieder aus ihren zwar schon druckfertigen, aber wegen eines Verbotes nicht veröffentlichten Texten. So geschehen am Sonntag im Literarischen Colloquium Berlin. Lutz Seiler, Gisela von Wysocki, Wolfgang Matz, Katharina Winkler, Hans Joas, Kornelia Koepsell, Friedrich Dieckmann, Avrina Jos und Emanuel Maeß waren bereit, am Vorabend des Geburtstages von Peter Huchel, des ersten Chefredakteurs der Zeitschrift Sinn und Form, Texte aus ungedruckten Heften zu lesen und miteinander und mit dem Publikum über die Bedeutung von Zeitschriften im literarischen Leben zu diskutieren.

Vier Tage zuvor stand bereits die wettbewerbsrechtliche Klage gegen die renommierte Kultur- und Literaturzeitschrift Sinn und Form, die aktuell per Gerichtsbeschluß und unter Androhung von einem Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro nicht gedruckt und ausgeliefert werden darf, im Mittelpunkt einer Diskussion im Literaturhaus Berlin, in der sich Verfassungsrechtler Christoph Möllers, die Zeitschriftenherausgeberin Sieglinde Geisel, der Schriftsteller Durs Grünbein sowie Sinn und Form-Chefredakteur Matthias Weichelt äußerten. Auch hier ging es um Fragen wie die, ob Kultur und Literaturzeitschriften umstandslos „der Presse“ gleichzusetzen sind, ob im publizistischen Bereich stärker auf die Kräfte des Marktes gesetzt werden sollte und ob eine Institution wie die Akademie der Künste berechtigt ist, eine literarische Zeitschrift zu publizieren.

Die Klage gegen zwei Kulturzeitschriften und ein Onlineportal sowie ein bisher ergangenes Urteil des Berliner Landgerichts (Az.: 52 O 64/22) haben durchaus das Potential, an den Grundfesten der Bundesrepublik zu rütteln. Es geht um das Verhältnis von Presse- und Kunstfreiheit zueinander und letztlich um die ganz große Frage, ob der deutsche Staat den in einer existenzbedrohenden Krise steckenden Printmedien finanziell unter die Arme greifen sollte, wie es andere europäische Länder – Österreich, Frankreich, Schweden – in unterschiedlichen Formen längst tun.

Während der Corona-Zeit Unterstützung beantragt 

Andererseits sind Zeitschriften beispielsweise für die Sinn und Form-Mitarbeiter keine schnöden Tages- oder Wochenzeitungen, sondern stehen „in der Reihe der Publikationsformen genau in der Mitte zwischen dem dauernden Werk und der vergänglichen Presse“. So schrieb der Historiker und Publizist Gustav Seibt anläßlich des 50. Geburtstages in der Ausgabe 2/1999: „Zeitschriften sind ein Ort, an dem die soeben vorfallende Geschichte schon eine überlieferbare Gestalt annimmt, denn sie setzen eine erste Übersicht über das Geschehene voraus. Sie bringen kleine Werke, Essays und Gedichte, Auszüge aus kommenden Werken, schließlich Dokumente in eine Konstellation, in der sie einander wechselseitig beleuchten. Ihre Lichtquelle ist der gemeinsame Zeitpunkt des Erscheinens, die Aktualität von Monat und Vierteljahr. Zeitschriften landen nicht im Müll, sondern im Bücherregal; dort werden sie zu einem über die Jahre fortgesponnenen Werk.“

Demnächst könnte für drei das letzte Stündlein geschlagen haben: neben Sinn und Form, der „dienstältesten Hauspostille des klassischen Humanismus“, die bisher allen historischen Umbrüchen getrotzt hat, der vom Auswärtigen Amt finanzierten Zeitschrift Kulturaustausch sowie dem vom Literarischen Colloquium Berlin betriebenen und vom Außenministerium geförderten Onlineportal „LCB diplomatique“.

Sie alle hat Frank Berberich, Herausgeber der Kulturzeitschrift Lettre International, im Visier, weil sie durch den Staat finanziert würden. Im Gegensatz zur 1949 vom ehemaligen expressionistischen Dichter Johannes R. Becher gegründeten und seit 1950 unter dem Dach der Berliner Akademie der Künste erscheinenden Sinn und Form war Lettre International, erstmals 1988 mit einer Anschubfinanzierung durch die taz in West-Berlin ins Leben gerufen, bis zum staatlich verordneten kulturellen Corona-Lockdown der sehr lebendige Beweis, daß eine anspruchsvolle Kulturzeitschrift sehr wohl über den Markt, also über Abos und Anzeigen, zu finanzieren ist.

Das änderte sich mit der Pandemie. Wie die Buchbranche beantragte Berberich finanzielle Unterstützung, wurde aber unter Verweis auf den Grundsatz der Staatsferne der Presse abschlägig beschieden. Keine staatlichen Corona-Hilfsgelder also für Lettre International. Der Groll muß schon sehr groß gewesen sein, wenn Berberich daraufhin zur Jagd auf Sinn und Form beziehungsweise die Akademie der Künste blies, hatte diese ihm doch 2010 den Will-Grohmann-Preis verliehen und Lettre International 2018 den Konrad-Wolf-Preis.

Schriftsteller und Künstler protestieren gegen die Klage 

Den 74jährigen, einstigen Mitgründer der taz ärgerte mächtig, daß der Mitbewerber schon immer genau das erhielt, was ihm verwehrt wurde. Schließlich finanziert sich die Akademie der Künste als bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts im wesentlichen aus Mitteln des Bundeshaushaltes. Wenn sie aber mit diesen Geldern ein Kulturperiodikum herausgebe, behindere sie den freien Wettbewerb, was im eklatanten Widerspruch zur verfassungsrechtlich geschützten Freiheit der Presse stehe. Tatsächlich wird Sinn und Form mit mehr als 330.000 Euro jährlich subventioniert. Die 2.200 Abonnenten zahlen lediglich 45 Euro für sechs Hefte mit mehr als 850 Seiten.

„Marktwirtschaftlicher Erfolg, Leistung, Qualität, Exzellenz werden nicht gewürdigt und honoriert, sondern geradezu bestraft“, schreibt der Lettre-Chef. Eine Zeitschrift mit 2.000 Käufern werde mit Geld überhäuft, eine Zeitschrift mit einem Mehrfachen an Käufern ignoriert und blockiert. Die unsubventionierte Zeitschrift sei „dabei perverserweise überdies gezwungen, mit den von ihr gezahlten Steuern Dumpingpraktiken des steuersubventionierten Konkurrenten zu finanzieren“.

Letztlich zielt die Klage gegen eine verdeckte Pressefinanzierung durch den Staat, wie dieser sie auch durch ganzseitige Anzeigen von Ministerien oder nachgeordneten Einrichtungen in ihm genehmen Tages- und Wochenzeitungen praktiziert. Nur ist im vorliegenden Fall eine konkrete Ausgabe einer Zeitschrift betroffen, die nicht erscheinen darf, und mit ihr auch jene Autoren, die die Veröffentlichung ihrer Beiträge schon vor Augen sahen, sowie Leser, die sich darauf gefreut haben.

Berberichs Versicherung, es ginge ihm ausschließlich um Wettbewerbsgerechtigkeit und Verfassungskonformität, mochte man ihm nicht so recht abnehmen. Im Gegenteil: Man habe den Eindruck, „als ob es Berberich darum ginge, nicht allein unterzugehen“, giftete Akademie-der-Künste-Mitglied Friedrich Dieckmann in der FAZ. Dazu kommt, daß Berberich schon 2006 im Streit um die vom Literaturfonds mit 300.000 Euro subventionierte geplante Buchmessenausgabe der Zeitschrift Volltext geschrieben hatte: „Wieder greift die Beamtenhand in die öffentliche Schatulle, um den eigenen publizistischen Ehrgeiz am Markt zu befriedigen – nur ein lächerliches Schauspiel.“

Berberichs juristische Argumentation sei nicht unschlüssig, eine grundsätzliche Klärung sicher sehr sinnvoll, auch weil es zunehmend schwieriger werde, Kulturzeitschriften, aber nicht nur diese, über den Markt zu finanzieren und am Leben zu erhalten, sagte der Kulturwissenschaftler Ekkehard Knörer, seit 2017 Mitherausgeber der durch eine Stiftung finanzierten, monatlich erscheinenden Kulturzeitschrift Merkur, im Deutschlandfunk. Von einer Attacke auf die „Vielfalt des literarischen Lebens, das nicht nur marktwirtschaftlicher Logik folgt, sondern auf privates und öffentliches Engagement angewiesen ist“, schreibt der Beirat von Sinn und Form. Dem Protest gegen die Klage haben sich Schriftsteller wie Daniel Kehlmann, Ingo Schulze, Kathrin Röggla und Eva Menasse, der Philosoph Peter Sloterdijk, Publizisten wie Helmut Lethen und Rüdiger Safranski und die Schauspieler Ulrich Matthes, Jutta Wachowiak und inzwischen viele andere angeschlossen.

Zumal der Richter die Zielrichtung der Anklage zwar verstand, es aber tunlichst vermied, Richtungsweisendes zur Frage der Staatsfreiheit oder gar zu den grundrechtlich geschützten Interessen der Akademie der Künste zu urteilen. Stattdessen stellte er lapidar fest, daß der Akademie die Gebührenordnung fehle, die aber in deren Satzung gefordert wird. Und dieses Versäumnis könne sie selbst heilen.

„Damit geht das Gericht der Frage aus dem Weg, ob aus potentiellen Einflußnahmemöglichkeiten des Staates auf bestimmte Presseerzeugnisse überhaupt ein grundrechtsrelevanter (Wettbewerbs-)eingriff gegenüber anderen Presseunternehmen folgt – eine Frage, die durchaus verfassungsdogmatische Kreativität erfordern würde“, so Luisa Celine Zimmer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin.

Zimmer verweist darauf, daß das Wettbewerbsrecht der Einsicht folgt, „daß sich gleichartige Produkte bei gleichartigem Kundenkreis in ihrem Absatz gegenseitig behindern können“. Zu simpel erscheine die knappe Anwendung dieses Maßstabs durch das Landgericht: „Beide Parteien geben eine Kultur- und Literaturzeitschrift heraus, die sich an ein kultur- und literaturaffines Publikum richtet.“ Die Frage, ob hier tatsächlich um dieselben Personenkreise gerungen wird oder ob es nicht vielmehr um das finanzielle Überleben einer einzelnen Kulturzeitschrift geht, bleibe unter Verweis auf die „geringen Anforderungen an ein konkretes Wettbewerbsverhältnis“ durch das Landgericht unbeantwortet.

„Wir haben anno 2005 tatsächlich versäumt, den Erwerb von Heften der Zeitschrift Sinn und Form, die unstreitig „eine Einrichtung der Akademie“ ist, mit einer eigenen Erwähnung zu bedenken“, räumt Dieckmann in seinem Gastbeitrag in der FAZ ein. Das werde man auf der Mitgliederversammlung im kommenden Mai nachholen: „Wenn die Urteilsbegründung allerdings imaginiert, daß das Gründungsgesetz der Akademie die vorgeschriebenen Entgelte mit dem ‘Grundsatz der Kostendeckung’ verbunden habe, so ist das Landgericht im Irrtum; von Kostendeckung ist in dem entsprechenden Paragraphen nicht die Rede.“

Und Juristin Zimmer faßt in ihrer Analyse das grundlegende Problem in drei Sätze zusammen: „Das Urteil des Landgerichts läßt also mehr offen als es klärt. Wieviel Lettre davon hat, ist ebenfalls unklar. Die Zukunft des kleinen Marktes intellektueller Zeitschriften bleibt damit bis auf Weiteres: ungewiß.“

Schon deswegen fordert Dieckmann, daß „ergangene Urteil juristisch zu überprüfen“ und „pragmatische Lösungen im Rahmen des Zulässigen und Gebotenen zu finden“. Ausdrücklich bezieht er dabei Berberichs „offenbar gefährdete“ Zeitschrift Lettre International ein. Diese sei unentbehrlich und könnte „unter derselben Voraussetzung, wie sie für Sinn und Form innerhalb der Akademie der Künste substantiell gegeben ist“, einer anderen staatsfinanzierten Kultureinrichtung zugeordnet werden. Dann aber würde Berberich einräumen, daß Lettre International genauso wie die „Staatszeitschrift“ Sinn und Form und die beiden anderen von ihm Beklagten „nicht ohne die künstliche Beatmung durch den Staat überleben“ könnte, und ebenso ein „publizistisches Staatsanhängsel“ ist, mit dessen Hilfe die „Kolonisierung der Zivilgesellschaft“ betrieben werde.

Weitere Informationen auf den Netzseiten

 www.lettre.de

 https://sinn-und-form.de