© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/23 / 06. April 2023

Vom Erstaunen zur Bewunderung
Bildende Kunst: Vor 50 Jahren starb der spanische Maler, Grafiker und Bildhauer Pablo Picasso
Thomas Schäfer

Im Jahre 1993 veranstaltete die spanische Regierung eine Umfrage zum Bekanntheitsgrad von Prominenten. In deren Verlauf äußerten 71 Prozent der Probanden, daß ihnen Bill Clinton, der damalige neue US-Präsident, ein Begriff sei. Hingegen kam Pablo Picasso auf 84 Prozent. Dabei war der Künstler 1993 bereits zwanzig Jahre tot.

Pablo Diego José Francisco de Paula Juan Nepomuceno María de los Remedios Cipriano de la Santísima Trinidad Ruiz y Picasso, welcher seine Werke ab 1901 nur noch lakonisch mit dem Kürzel „Picasso“ signierte, starb am 8. April 1973 im Alter von 91 Jahren im Herrenhaus Mas Notre-Dame de Vie in Mougins unweit von Cannes. Zu diesem Zeitpunkt galt der gebürtige Spanier als „Jahrhundertgenie“ und Schöpfer einer ebenso großen wie verwegenen Kunst, die sich der Wirklichkeit auf zutiefst innovative Weise nähert. Hierzu schrieb der Ethnologe Michel Leiris bereits im Jahre 1930: „Für Picasso geht es viel weniger darum, die Realität neu zu machen, um sie neu zu machen, als um das unvergleichlich wichtigere Ziel, alle ihre Möglichkeiten, alle ihre Verzweigungen auszudrücken.“ Dadurch entstanden revolutionäre Werke wie das Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“, welches 1907 die Ära des Kubismus einleitete und einerseits als Schlüsselbild der Moderne gilt, weil es alle traditionellen Regeln des Malens brach und erstmals Menschen aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig zeigte, andererseits aber auch einen Rückgriff auf die prähistorische iberische Kunst darstellte.

Insgesamt hinterließ Picasso, der manchmal bis zu drei Bilder am Tag produzierte, der Nachwelt ein gigantischen Œuvre aus 1.885 Gemälden, 7.089 Zeichnungen, 19.134 Grafiken, 3.222 Keramik-Arbeiten, 1.228 Skulpturen, acht Bildteppichen sowie 175 Skizzenbüchern mit rund 7.000 Zeichnungen. Dabei zeugt auch die Preisentwicklung für diese Werke von der kontinuierlich wachsenden Bedeutung und Popularität des Künstlers: Die ersten Picassos kosteten in der Zeit nach 1900 50 französische Francs. Dann bewegten sich die Erlöse sukzessive nach oben, bis es 1958 zur ersten großen Sensation kam: „Die schöne Holländerin“ von 1905 erzielte den bis dahin höchsten Auktionspreis für das Bild eines lebenden Malers, nämlich 661.100 Schweizer Franken. 1967 wiederum bot die New Yorker Bodley Gallery für „Mutter und Kind am Strand“ von 1902 umgerechnet 2,1 Millionen D-Mark.

Er brach ohne Scheu vor dem Publikum mit Konventionen

Eine regelrechte Preisexplosion folgte nach dem Tode Picassos. So erbrachte „Der Traum“ von 1932 bei seiner Versteigerung 1998 48,8 Millionen US-Dollar, und im Mai 2015 zahlte ein unbekannter Käufer für das großformatige Ölgemälde „Les Femmes d’Alger (Version O)“ von 1955 sagenhafte 179,4 Millionen Dollar. Damit rangiert dieses Bild auf Platz drei in der Liste der bislang teuersten Kunstwerke aller Zeiten hinter dem Porträt „Shot Sage Blue Marilyn“ von Andy Warhol (195,04 Millionen Dollar) und dem vermutlich von Leonardo da Vinci geschaffenen Ölbild „Salvator mundi“ (450,3 Millionen Dollar). Insgesamt sind seit Anfang des 20. Jahrhunderts Picassos im Wert von über einer Milliarde Euro veräußert worden, wobei die Preise kaufkraftbereinigt um das 300.000fache stiegen.

Dabei fing alles recht bescheiden an, und es gab mehr negative als positive Urteile. So sagte Georges Braque beim Anblick der „Demoiselles d’Avignon“ zu Picasso: „Mit Ihren Bildern wollen Sie anscheinend bei uns das Gefühl erwecken, Stricke schlucken und Kerosin trinken zu müssen.“ Und die Zeitung La Liberté ätzte 1908: „Man spürt eine starke Vorliebe für deformierte, überzeichnete und häßliche Frauen.“ 1911 wiederum war in dem Magazin The Craftsman zu lesen: „Wenn aber Picasso in seinen Studien ernsthaft sein Naturgefühl kundtut, dann muß man ihn doch für einen tobenden Irren halten, denn etwas Unverbundeneres, Beziehungsloseres und Unschöneres als diese Darstellung seiner eigenen Gefühle ist schwer vorstellbar.“

Solche Kritik konterte der Maler mit Sentenzen wie: „Bloß wegen des Vergnügens, verstanden zu werden, werde ich nicht in einem gewöhnlichen Stil arbeiten.“ Und schließlich dominierte dann tatsächlich eine Form der Rezeption, die der führende französische Galerist Ambroise Vollard 1936 dergestalt beschrieb: „Jedes neue Werk Picassos entsetzt das Publikum, bis das Erstaunen sich in Bewunderung verwandelt.“

Das resultierte daraus, daß der Künstler nicht nur mit Konventionen brach, sondern auch unablässig und ohne Scheu vor einer Polarisierung des Publikums an seinem eigenen Mythos wob. Hierbei tat Picasso in jeder Schaffensphase instinktiv das Richtige, als ob er im Besitz eines übersinnlichen Kompasses für die Suche nach dem Weg zum Erfolg gewesen wäre.

Weitverzweigtes Netzwerk von Sammlern und Händlern

Zunächst erkannte Picasso, der entgegen allenanderslautenden Gerüchten ganz hervorragend im traditionellen Stil malen konnte, daß die naturgetreue Wiedergabe von Motiven mit dem Aufkommen der Fotografie jedweden Reiz verloren hatte. Deshalb begab er sich auf die Suche nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten, wie das vor ihm beispielsweise auch schon die Impressionisten gewagt hatten. Dabei kam ihm die Existenz einer neuen Käuferschicht aus dem Bürgertum entgegen, deren Geschmack sich sehr von dem der bisherigen Bilderliebhaber aus Adel und Klerus unterschied.

Andererseits verlor Picasso aber nie die Bodenhaftung und nahm sich Zeit für das Erlernen aller notwendigen künstlerischen Techniken. Auf dieser Basis testete er immer neue Stilrichtungen aus, wovon die unablässige Fortentwicklung von der Blauen und Rosa Periode über die Période nègre bis hin zur kubistischen und surrealistischen Phase sowie schließlich auch seine Neuinterpretationen der Alten Meister ab 1945 zeugen.

Gleichzeitig nahm der gebürtige Spanier Anregungen der unterschiedlichsten Art auf – selbst wenn sie noch so fremd wirkten, wie die Hinterlassenschaften urgeschichtlicher oder afrikanischer Kulturen, und zum Bruch mit allen geltenden Regeln animierten, welche aber eben nur Regeln waren, die seit der Renaissance galten. Und wenn Picasso dann wieder zu einem neuen Stil gefunden hatte, dann schöpfte er dessen Potential ohne Scheu vor Kritik so weit als irgend möglich aus und verband ihn konsequent mit seinem Namen.

Ebenso zeigte der Künstler ein bemerkenswertes Talent, nicht im Atelier zu vereinsamen, sondern immer wieder die richtigen Kontakte zu knüpfen und sich so ein weitverzweigtes Netzwerk aufzubauen, dem außer Kollegen auch einflußreiche Sammler, Kritiker, Galeristen und Kunsthändler angehörten. Gemeinsam mit den letzteren entwickelte er außerdem eine brillante Verkaufsstrategie: Anstatt mit Dumpingpreisen für das Neue zu werben, wurden Interessenten bis zu viermal höhere Summen als für vergleichbare Formate abverlangt. Dazu kam eine rigorose Verknappung des Angebots an käuflichen Bildern, die seinen Werken beizeiten den Ruf der Exklusivität eintrug.

Für die weitere Steigerung von Picassos Ansehen sorgte später noch ein wohldosiertes politisches Engagement. In diesem Zusammenhang achtete der Maler akribisch darauf, sich der Öffentlichkeit möglichst sympathisch zu präsentieren. Daher durften nur die besten Fotografen Bilder von ihm schießen, damit die „Marke“ Picasso keinen Imageschaden nahm.

Ansonsten zeichnete den Ausnahmekünstler Picasso aus, daß er bis zum Schluß ebenso produktiv wie umstritten blieb: Am Abend vor der Lungenembolie, die ihn letztlich das Leben kostete, überarbeitete Picasso einen stark abstrahierten liegenden weiblichen Akt, wie er typisch für die absolute Spätphase seines Schaffens war, deren Produkte der renommierte britische Kunsthistoriker Douglas Cooper so bewertete: „Unzusammenhängende Schmierereien, ausgeführt von einem rasenden Greis im Vorzimmer des Todes.“ Dabei stellte die leidenschaftliche Fixierung auf Nacktheit und Sexualität aber nur eine Reminiszenz an die Jahre 1902/03 dar, als der junge Picasso in Zeichnungen wie „Le Phallus“, „Zwei Akte und eine Katze“ oder „Isidre Nonell und eine Frau“ mit pornographischen Sujets experimentierte, was er später so begründete: „Die Kunst ist nicht keusch, und wenn sie es wäre, dann wäre sie keine Kunst.“