© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/23 / 06. April 2023

Blendwerke der Eitelkeit
Literatur: Martin Mosebachs Roman „Taube und Wildente“ ist ein ironisches Großbürger-Porträt in der gewohnten sprachlichen Brillanz
Dietmar Mehrens

Sie ist eine ganz schlimme Belastung für alle, die es mit ihr zu tun bekommen. Und das dürften viele sein. Denn verbreitet ist ihre Art wie die gemeine Stubenfliege. Und genauso nerven kann sie auch. Nur daß gegen sie natürlich keine Klatsche hilft. Die Rede ist von dem Typ Frau, der nicht zuhört, andere zu Adressaten seiner beispiellos bedeutenden Botschaften degradiert und einzig um die Wirkung des eigenen Auftritts besorgt ist. Eine solche Eitelkeitskönigin ist Marjorie Dalandt, die weibliche Hauptperson des neuen Romans von Martin Mosebach, wie oft bei dem Büchner-Preisträger zugleich ihre eigene – wenn auch nicht ausnahmslos boshaft gezeichnete – Karikatur.

„Unkorrigierbar, taktlos, schroff“ nennt Ru-precht Dalandt, mit dem sie in zweiter Ehe verheiratet ist, seine Frau. Die Harvard-Absolventin, unter deren Oberfläche von Grandezza und Erhabenheit der Vulkan einer leidenschaftlichen Ich-will-mich-jetzt-radikal-verschenken-Erotik lodert, ist die Erbin des Vermögens von Cornelius De Kesel, einem reichen Patriarchen. Das macht sie zu einer festen Größe in Ruprecht Dalandts beruflicher Existenz. Er ist nämlich der Verlagsleiter von Papyros Press, einem kleinen Nischenverlag, prämiert als „Kleinverlag des Jahres“, für den die wohlhabende Erbin eine Bürgschaft übernommen hat. 

Die Eheleute streiten um ein Bild und entfremden sich zusehends 

Ruprecht, die männliche Hauptfigur des Romans, ist ein Schöngeist und wenig produktiver  Gelegenheitsessayist. Vor allem der „Danteschen Höllenvision“ würde er sich gern mal ausführlich widmen. Als „genußbegabten, aber zutiefst unprofessionellen“, zu überzogener Kulturkritik neigenden Kunstliebhaber charakterisiert ihn sein Rivale Fritz Allmendinger, der Mann für die Zahlen bei Papyros Press. Auf einer Verlagskonferenz kann Ruprecht schon mal wortreich darlegen, „wie verächtlich der Gebrauch des Wortes ‘sexuell’ sei, ein Wort, das Goethe und Hölderlin, die beiden Erotiker, entweder noch gar nicht gekannt oder, wenn doch geläufig, niemals in Verbindung mit Menschen in den Mund genommen hätten“ (S. 169). Dieser Formwille hindert ihn freilich nicht an eigenen sexuellen Eskapaden: Im Verlauf der Erzählung entpuppt sich der Schöngeist als Schwerenöter, als Woody Allen der Verlagsbranche gewissermaßen.

Die Sommermonate verbringen die Dalandts traditionell in La Chaumière, einem in der französischen Provence malerisch gelegenen Landhaus samt feudalem Grundstück. In diesem Jahr sind als Gäste aus dem Verlag der Vertriebsleiter Fritz Allmendinger und die Lektorin Sieglinde Stiegle mit dabei. Außerdem verbringt Paula, Marjories Tochter aus erster Ehe, zusammen mit ihrer kleinen Tochter und ihrem aktuellen Lebensabschnittsgefährten, dem Pianisten Max, den Sommer mit der Familie.

In der rustikalen Sommerresidenz hängen auch ein paar Gemälde, die Cornelius De Kesel angeschafft hat. Die meisten gehören einer Stiftung. Eines aber nicht: „Taube und Wildente“ (offiziell: „Tote Feldtaube und Wildente“) von Otto Scholderer. Im Roman wurde es Marjorie von ihrem Vater vererbt, der es 1905 in London erwarb. Um das Bild, 1884 gemalt im eher konventionellen Stil und daher den kunstinteressierten Gästen von Marjorie etwas herablassend vorgestellt, entsteht im ersten Teil des Buches („Sommer“) ein Streit: Ruprecht nimmt, in unbewußt gesuchter Konfrontation mit seiner selbstgefällig auftretenden Gattin, in „Taube und Wildente“ auf einmal eine geniale Einzigartigkeit wahr. Marjorie jedoch will es verkaufen, um eine dringend benötigte Dachreparatur zu finanzieren.

In dem Konflikt materialisiert sich, was unausgesprochen zwischen den Eheleuten längst in der Luft liegt: Entfremdung. Marjorie hat eine heimliche Affäre mit dem Verwalter von La Chaumière, dem mittellosen Maler Damien Devereux, der auf dem Grundstück das alte Pförtnerhaus bewohnt und den Ruprecht in Thomas-Mann-Diktion einen „verwesenden Jüngling“ nennt. Damien spinnt unsichtbar die Fäden, in denen auf einmal das Gemälde zappelt. Ausgerechnet in dem schlampig lebenden Künstler hat die dominante Exzentrikerin ihren Meister gefunden.

Schließlich trennen sich die Eheleute: Während Ruprecht mit dem Bild nach Deutschland zurückkehrt, verbleibt Marjorie in La Chaumière – natürlich auch, um endlich ungestört mit ihrem Liebhaber zusammensein zu können. Nichts anderes gilt für ihren Gatten. Mit wem der sich im heimischen Deutschland amourös amüsiert, ist dem aufmerksamen Leser natürlich längst klar.

„Unsere tägliche Kulturkritik gib uns heute“ 

Im zweiten Teil des Romans („Winter“) macht Mosebach seine Leser zu vergnügten Zeugen, wie in seinem deutschen Domizil der epikureische Kunstliebhaber und in ihrem französischen Exil seine hoffärtige Gemahlin ihre unbezähmbaren Bedürfnisse als Blendwerke der eigenen Eitelkeit entlarven müssen. Jäh verschwimmt, wie die Wasserspiegelung des Narziß, wenn das Schicksal einen schweren Stein in den Teich plumpsen läßt, das Trugbild, dem beide auf den Leim gegangen sind. Und als wäre dieser Bildersturm in der eigenen Seele nicht schon Strafe genug, läßt der Autor in einem furiosen Finale schließlich die ganze bürgerlich-begüterte Existenz der beiden Dalandts in Flammen aufgehen.

Martin Mosebach, Jahrgang 1951, wird wegen seines feinen Stils gern mit Thomas Mann verglichen. Sätze über zwei Seiten findet man hier zwar nicht, dafür aber so herrliche Wörter wie „Eidetiker“ und betörende lexikalische Migranten wie „bricolieren“, „Flacon“ oder „Trompe l’œil“, an denen der alte Johann Buddenbrook seine Freude gehabt haben dürfte. Auch die jähe Überwältigung des Dilettanten durch Kunstsinn, die Ruprecht in Anbetracht von „Taube und Wildente“ erleidet, ästhetischer Höhepunkt des Romans, läßt an frühe Werke des berühmten Lübeckers denken, nicht nur an Thomas, den zwischen bürgerlicher Existenz und ererbtem Kunstverstand eingekesselten Buddenbrook-Erben, auch an einige der ersten Thomas-Mann-Novellen.

Ein Fest für Feingeister ist auch die offen zelebrierte Lust des Autors an der Entlarvung sprachlicher Platitüden wie „schwarze Null“ (ändert es was, wenn die Null rot ist?) oder „Kitsch“. Das undifferenzierte Kritikerurteil kommentiert Ru-precht Dalandt wie folgt: „Ich glaube, wir machen es uns mit dem Kitsch immer etwas zu leicht. Es ist ein Triumphgefühl damit verbunden, ein komplexes ästhetisches Phänomen, das man nicht in den Griff bekommt, mit der Fliegenklatsche zu erledigen. Kitsch – das ist ja schon vom Klang her ein Klatschwort.“

„Unsere tägliche Kulturkritik gib uns heute“, ätzt Allmendinger im Büro von Papyros Press gegen den altmodischen Verlagsleiter mit dem leichten Phlegma. Nicht schwer zu erraten, auf wessen Seite der Autor bei diesem Dissens steht. Allmendingers Sarkasmus wirkt wie die literarische Veredelung linker Schmähungen, die der konservative Dichter selbst, trotz gleichbleibender Qualität seiner Werke, in der Vergangenheit zu erdulden hatte.

Wer über die feinsinnigen Räsonnements am Rande hinwegliest, dem dürfte auf jeden Fall die subtile Figurenzeichnung Freude bereiten, die natürlich – wie bei dem hinreißenden, thematisch ähnlich gelagerten Buchpreis-Kandidaten „Was davor geschah“ von 2010 – viel wichtiger ist als die Handlung, die auf komplizierte Ver- und Entwicklungen zugunsten elaborierter Charaktere verzichtet. 

Mit leichter Meisterhand führt der gebürtige Frankfurter am Ende wie im biblischen Gleichnis vom reichen Kornbauern alles, was zuvor als existenzwendend-bedeutend inszeniert wurde, ad absurdum: Ein Dantesches Inferno droht da sogar „Taube und Wildente“ zu verschlingen. Wenn das keine Inspiration für Ruprecht Dalandts überfälligen Dante-Essay ist!

Martin Mosebach: Taube und Wildente. Roman. dtv, München 2022, gebunden, 336 Seiten, 24 Euro