© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/23 / 06. April 2023

Mit dem Grundeinkommen den Bürger entmündigen
Sargnagel für die Demokratie
(wm)

Bereits vor 40 Jahren warfen Sozialwissenschaftler die Frage auf, ob der das Gemeinwesen mitgestaltende Staatsbürger, wie ihn die meisten Demokratietheorien voraussetzen, nicht ein wirklichkeitsfremdes Konstrukt sei. In der kapitalistisch organisierten Arbeitswelt, in der heute noch krasser als in den westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten um 1980, Unterordnung, Unterbezahlung und Überforderung dominieren, scheint es daher erst recht illusionär, sich den Durchschnittsbürger als souveränen Teilnehmer an der demokratischen Willensbildung vorzustellen. Stattdessen müssen, so lautet das Programm einer politisch an Einfluß gewinnenden sozialwissenschaftlichen Denkschule, demokratisches Engagement und Erwerbstätigkeit mittels Gewährung eines „Grundeinkommens“ entkoppelt werden. Dank der Auszahlung eines solchen „Bürgergeldes“ an alle erwachsenen Gesellschaftsmitglieder könnte sich dann jedermann frei von ökonomischen Sorgen um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern. Für den Sozialphilosophen Axel Honneth (New York) wäre die Einführung eines solchen bedingungslosen Grundeinkommens hingegen der letzte Sargnagel für das ohnehin heftig kriselnde westliche Demokratie-Modell: „Ein solches System würde Konsumenten, aber nicht dialogwillige und kompromißbereite Staatsbürger großziehen.“ Denn eine demokratische Willensbildung ohne den Unterbau einer Organisation geregelter Arbeitsteilung, in der sich das Bewußtsein gemeinschaftlicher Verantwortung entwickelt, wäre eine rein private Veranstaltung von ganz im Sinne der Herrschenden atomisierten und entmündigten Subjekten (Merkur, 3/2023). 


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