Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte dem Niger Hilfen in Höhe von 17 Millionen Euro im Kampf gegen Schleuser und illegale Migration zu. Es ging um die Frage: „Was kann Deutschland als Kompensation geben für die Menschen im Raum Agadez“, sagte sie 2016. Die Region Agadez war und ist ein Knotenpunkt für Migranten aus Westafrika auf dem Weg nach Norden Richtung Libyen. Die Nigrer selbst begeben sich meistens nicht auf die Reise. Es liegt nicht in ihrer Mentalität und Kultur, die Familie zu verlassen.
Der Sahel-Staat, in dem sich auch die Bundeswehr seit 2018 an Ausbildungsmissionen beteiligt, ist eines der ärmsten Länder der Welt. Und Agadez – das Tor zur Sahara – galt und gilt als Ausgangspunkt für die gefährliche Route Richtung Mittelmeer.
Migration hat eine lange Tradition bei den Tuareg – den blauen Wüstenkriegern der Sahara. Nur hieß es früher Menschenhandel oder Sklaverei. Lange vor der Ankunft der Europäer wurden Menschen als Ware gehandelt. Ein Geschäftsmodel, das über Jahrhunderte florierte, verschwindet nicht so einfach. Schon gar nicht, wenn es sonst kaum andere Einnahmequellen gibt.
Agadez, mit rund 120.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt im Norden Nigers, wurde bis in die 2000er Jahre als „Tor zur Wüste“ beworben. Tausende Touristen strömten dorthin, um von dort Wüstensafaris und Kameltouren zu buchen. Die Stadt hatte den Ruf von Gastfreundschaft und Sicherheit. Zudem war der Weg nach Norden durch Libyen von Gaddafi versperrt.
Doch alles änderte sich mit der Zerstörung Libyens und dem Tod Gaddafis. Die unter ihm dienenden Tuareg-Soldaten mußten zurück in die Sahara fliehen und standen ohne Einkommen da. In den Weiten der Wüste im Norden des Niger und anderen Teilen der Sahara in Algerien, Mali und dem Tschad organisierten sich Banden, um Touristen zu entführen und Lösegeld zu fordern. Das war der Anfang vom Ende des Tourismus in Agadez.
Die Lage im Norden verschärfte sich ab 2003 auch noch, weil die Tuareg nicht am politischen und wirtschaftlichen Leben des Landes beteiligt wurden. Ohne Einnahmequellen konzentrierten sie sich auf ihre Bodenschätze. Die Gold- und Silberproduktion hat eine lange Tradition in der Wüste. Die nigrische Regierung unter Einfluß der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich untersagte jedoch den Abbau der Edelmetalle und vergab Lizenzen an französische und kanadische Firmen. Das führte zu einer siebenjährigen Rebellion der Tuareg, die erst 2010 mit einem Friedenvertrag und einer Wirtschaftsvereinbarung beigelegt wurde. Doch der Tourismus kam nicht zurück.
Die Digitalisierung hat das Migrationsproblem verschärft
Viele Investitionen wurden in den Folgejahren vor Ort getätigt, auch der Ausbau von Telefon- und Internetleitungen. Ein Segen und Fluch zugleich, weil sich die meist jungen Menschen nun informieren und mit nach Europa ausgewanderten Verwandten kommunizieren konnten. Damit begann die große Migrationsbewegung aus Westafrika durch den Niger nach Agadez.
Ab 2014 begann ein regelrechter Migrationstourismus mit Zehntausenden „Reisenden“. Agadez profitierte davon, ob Hoteliers, Geldwechsler, Taxifahrer, Gastronomen, Friseure oder Reisebüros. Jeder „Tourist“ brachte im Schnitt 300 bis 500 Euro mit. Und fast jeder hatte ein Handy und war informiert über Wege nach Europa.
Aufgeschreckt von den vielen toten Migranten im Mittelmeer begann die EU, etwas dagegen zu tun. Die europäischen Staatschefs, allen voran Ex-Kanzlerin Merkel, gaben sich im Niger die Klinke in die Hand. Ziel war es, mit der nigrischen Regierung eine Vereinbarung zu treffen, um die Schleuser in Agadez zu bekämpfen.
Europa muß die Fluchtursachen wirksam bekämpfen
Dies gelang kaum, weil zu viele vor Ort davon profitierten. Die EU finanzierte gutgemeinte Programme, um alternative Einnahmequellen für die Region zu schaffen. Doch nur ein Bruchteil des Geldes wurde jemals ausgezahlt, die normale Bevölkerung bekam davon kaum etwas ab.
Da der Weg Richtung Norden nun besser kontrolliert wurde und harte Strafen für Schleuser drohten, waren diese gezwungen, alternative Routen zu suchen. So wurden Migranten von Agadez durch die malische und algerische Sahara bis Marokko befördert, um dann Richtung Kanarische Inseln oder nach Spanien zu gelangen. Da allerdings die Europäischen „Seenotretter“ dort nur teilweise aktiv waren, sind viele in den Ländern gestrandet. Durch großangelegte EU-Aktionen wurden Tausende Migranten wieder in den Niger zurückgeflogen oder von der algerischen Regierung kurz hinter der Grenze des Niger in der Wüste ausgesetzt. Wie viele Menschen dabei gestorben sind, kann nicht genau beziffert werden. Die Zahlen gehen aber sicher in die Tausende.
Nachdem das Leid der Migranten bekanntwurde, baute die IOM – Internationale Organisation für Migration – eiligst Zentren, um die Menschen zu versorgen. So entstanden auch in Assamaka, nur 15 Kilometer von Nigers Grenze zu Algerien entfernt, ein wichtiges Migrationszentrum. Die kleine Stadt ist ein Knotenpunkt für Migranten, die aus Algerien zurückkehrten, und umgekehrt. Seit Ende 2017 sind über 30.000 Migranten aus Algerien in Assamaka angekommen, hauptsächlich aus westafrikanischen Herkunftsländern. Die Lage verschärfte sich 2020 mit der Schließung der Grenzen zu Algerien wegen der Corona-Pandemie. Da Assamaka selbst nur etwa 1.000 Einwohner hat, sind viele Gestrandete nach Agadez oder in die Hauptstadt Niamey zurückgekehrt. Dort warteten neue Probleme.
In Agadez waren die meisten internationalen Hilfsorganisationen geschlossen. In der Hauptstadt Niamey gab es im September 2020 eine Jahrhundertflut, die große Teile der eigenen Bewohner zwang, in Sammelunterkünfte und höhergelegene Stadtteile zu ziehen. Tausende Migranten reihten sich in die Tausenden vom Hochwasser betroffenen Bewohner Niameys ein. Durch die Hilfsbereitschaft der Nigrer ereignete sich keine humanitäre Katastrophe, aber die westafrikanischen Migranten standen vor neuen Problemen.
Die IOM nahm 2021 ihre Arbeit in Niamey wieder auf, aber das Problem wurde nicht gelöst. Einen bitteren Beigeschmack bekamen die Zentren auch. Diese genießen den Ruf, die Migranten wieder aufzupäppeln und dann wieder auf die Reise zu schicken.
In Agadez indes kam der Migrationstourismus 2021/22 zurück. Es geht zwar nicht in die Zehntausende wie 2015, doch die Zahlen steigen. Die Rückkehr der internationalen Hilfsorganisationen änderte daran nichts.
Um die Migration aus der Region einzudämmen, muß Europa die Ursachen bekämpfen. Die Finanzierung von Auffangzentren wie die der IOM, ist keine Lösung. Um etwas im Niger zu ändern, braucht es Perspektiven.
Wer seine Familie versorgen kann, kommt nicht auf die Idee, nach Europa zu gehen. Einen richtigen Ansatz hatte der „G20-Compact with Africa“ (CwA) – oder auch Marshall-Plan für Afrika genannt – der Bundesregierung von 2017. Es sollten Anreize für deutsche Unternehmen geschaffen werden, in Westafrika zu investieren. Doch die von Merkel stets betonte Wichtigkeit Nigers für Deutschland hat bis heute keine Früchte getragen.
Eine echte Chance für eine dauerhafte Einnahmequelle der Tuareg ist die Reanimierung des Tourismus. Es gab auch andere Überlegungen, etwas gegen die Migration aus Afrika zu tun. So entstand schon 2015 die Idee eines multifunktionalen Zentrums. Es sollte Migranten davon abhalten, sich auf den Weg nach Europa zu machen.
Der damalige französische Innenminister, Bernard Cazeneuve (Sozialistische Partei), sagte damals, wer Asyl brauche, solle Schutz erhalten. Wirtschaftsmigranten hingegen sollten „in ihrem Land bleiben und Projekte entwickeln“.
Doch wenn es keine Projekte gibt, kann man auch keine entwickeln. Viele Jahre ging dann die Diskussion, wer die Verantwortung für das Zentrum übernehmen sollte. Deutschland wollte keine Beamte in den Niger schicken. Aus Sicherheitsgründen, hieß es damals. Frankreich hatte auch kein Interesse, weil viele Afrikaner ohnehin nach Deutschland wollten.
Jeder weiß, daß in Deutschland Bürgergeld, Kost und Logis warten. Erklären Sie einem Westafrikaner, der für fünf Euro am Tag zwölf Stunden arbeitet, warum er nicht versuchen sollte, nach Deutschland zu kommen. Die Afrikaner, die kommen wollen, werden auch künftig einen Weg finden. Darunter leiden all jene, die sich in ihrer Hemat etwas aufbauen möchten.