© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/23 / 06. April 2023

Eine Nation steht in Flammen
Frankreich: Das ganze Land wird von Krawallen wegen der Rentenreform erschüttert. Die Opposition ist gespalten
Felix Hagen

Frankreich kommt nach den großen Protesten gegen die Rentenreform des Präsidenten Emmanuel Macron (Renaissance) in den letzten Monaten immer noch nicht zur Ruhe. Unverändert finden im ganzen Land dezentrale Streiks und Demonstrationen statt, besonders Industriestandorte und die Hauptstadt Paris sind stark davon betroffen.

Während zu Beginn der Auseinandersetzungen über die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre die Kundgebungen vor allem von Gewerkschaften, Parteien und ähnlichen Organisationen getragen wurden, scheint es nun zu einer  steten Radikalisierung und Dezentralisierung zu kommen. Seit Ende März prägen vor allem jüngere Teilnehmer die von Ausschreitungen und Gewalt überschatteten Kundgebungen. Viele wenden sich dabei nicht mehr nur gegen die Rentenreform als solche, sondern auch gegen die Entscheidung des Präsidenten, das Gesetz im Wege eines parlamentarischen Notstands, des Artikels 49 der französischen Verfassung, am Parlament vorbei durchzusetzen.

Zwei Versuche der Opposition, ein Mißtrauensvotum in der Generalversammlung durchzusetzen, scheiterten jedoch. Während die Anträge zweier liberal-progressiver Parteien nur knapp die nötige Mehrheit verfehlten, scheiterte der Antrag des rechten Rassemblement National deutlich. Die starke Polarisierung der parlamentarischen Opposition in rechts und links gilt als einer der Hauptgründe für die von vielen Bürgern wahrgenommene Aussichtslosigkeit eines demokratischen Widerstands gegen die Politik der Macron-Regierung.

Aus dem anfänglichen Protest von Gewerkschaften und Rentnern gegen eine politische Entscheidung scheint nun eine grundsätzliche Auseinandersetzung um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Frankreichs geworden zu sein. Dominierten anfangs klassisch gewerkschaftliche Banner und Slogans auf den Demonstrationszügen, skandieren nun viele der deutlich jüngeren Teilnehmer radikal linke, antikapitalistische oder antifaschistische Parolen.

Polizei und Feuerwehr gehen auf dem Zahnfleisch

Auch die Protestformen haben sich geändert, zunehmend rücken Angriffe auf Polizeistationen oder sonstige Institutionen des Staates in den Fokus der nächtlichen Aktionen. Bilder, die in den sozialen Netzwerken kursieren, zeigen Brände und Rauchschwaden in der Pariser Innenstadt. Auch die Müllabfuhr streikt vielerorts, der liegengebliebene Müll sorgt für einen steten Nachschub für die Barrikaden der Randalierer.

Volkswirtschaftlich ist der Schaden, den die wochenlangen Proteste im Land angerichtet haben, bisher schwer zu berechnen, er dürfte aber in die Milliarden gehen. Das ist eine schwere Hypothek für Frankreich, das, wie andere westliche Staaten auch, von sprunghaften Preissteigerungen und einer unsicheren globalen Wirtschaftslage heimgesucht wurde.

Vertreter von Polizei und Feuerwehren warnen inzwischen eindringlich vor Ermüdungserscheinungen und Überlastung ihrer Einsatzkräfte, einzelne Protestteilnehmer und linke Antipolizeiorganisationen werfen den Sicherheitskräften hingegen wahllose Verhaftungen und exzessive Polizeigewalt vor. 

Auf der anderen Seite seien bisher mehr als 1.000 Polizisten bei den Zusammenstößen mit militanten Demonstranten verletzt worden, sagte der französische Innenminister, Gerald Darmanin (Renaissance), in einer Pressekonferenz, bei der er seine Mitarbeiter vor Angriffen in Schutz nahm. Gegen 36 Polizisten werde derzeit wegen exzessiver Gewalt ermittelt. Über die offiziellen Zahlen verletzter Demonstranten schwieg Darmanin. Mindestens 200 von ihnen sind bei einer einzigen Kundgebung im Südwesten des Landes verletzt worden, zwei davon schwer.