© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 15/23 / 06. April 2023

Was tun, wenn die Stimmung kippt?
Zuwanderung: Die Kommunen ächzen unter der Last neuer Ankömmlinge. Doch Platzmangel ist nicht das einzige Problem
Peter Möller

Für die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war der Gedanke an eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland unerträglich. Im Streit um die Frage, die sich nach der Grenzöffnung 2015 immer dringender stellte, riskierte sie sogar die Verbindung mit der Schwesterpartei CSU. Am Ende einigte sich die Union 2017 darauf, „daß die Gesamtzahl der Aufnahmen aus humanitären Gründen (Flüchtlinge und Asylbewerber, subsidiär Geschützte, Familiennachzug, Relocation und Resettlement, abzüglich Rückführungen und freiwillige Ausreisen künftiger Flüchtlinge) die Zahl von 200.000 Menschen im Jahr nicht übersteigt.“ 

Eine Zahl, die Angesichts der aktuellen Flüchtlingszahlen völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint: Im vergangenen Jahr haben 244.132 Menschen einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Mehr als eine Million Ukrainer haben nach dem Angriff Rußlands auf ihr Heimatland Aufnahme in der Bundesrepublik gefunden. Damit liegen die Zahlen höher als in der Flüchtlingskrise 2015/2016.

Auch die Haltung der CDU-Spitze hat sich geändert. Während Merkel nichts davon wissen wollte, daß Deutschlands Aufnahmefähigkeit von Flüchtlingen Grenzen haben könnte, warnt der aktuelle CDU-Chef und Unions-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz davor, daß die Zahl der Geflüchteten Deutschland derzeit „an die Grenzen dessen bringt, was die Gesellschaft noch bereit ist zu akzeptieren“. Eine Feststellung, die von den meisten Vertretern von Städten und Gemeinden in Deutschland geteilt werden dürfte. Seit Monaten warnen die Kommunen die Bundesregierung davor, daß die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit längst erschöpft ist. 

Von der Bundesregierung sehen sie sich nicht erst seit dem ergebnislos verlaufenen Flüchtlingsgipfel von Innenministerin Nancy Faeser im Stich gelassen. Daß Bundeskanzler Olaf Scholz nun für den 10. Mai zu einem Treffen ins Kanzleramt geladen hat, wird von vielen Kommunalvertretern als überfällig aber viel zu spät gewertet.

Vor diesem Hintergrund hatte in der vergangenen Woche die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Vertreter der Kommunen zu einem eigenen Gipfel zur Flüchtlingsaufnahme in den Bundestag geladen. „Wir haben mit denjenigen geredet, die Humanität und Ordnung vor Ort organisieren, mit den Landräten und Bürgermeistern dieser Republik“, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Unions-Fraktion, Andrea Lindholz. Das hätten Scholz und Faeser längst tun sollen. „Wir wollen, daß Deutschland auch in Zukunft denen hilft, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Die Bundesregierung scheint immer noch nicht begriffen zu haben, daß sie genau deshalb jetzt handeln muß.“

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt bezeichnete das Verhalten der Bundesregierung gegenüber den Kommunen als ignorant und inakzeptabel. Er forderte, daß neue Rückführungsmöglichkeiten in Zusammenarbeit mit Drittstaaten geschaffen werden müßten. „Wer mit uns zusammenarbeiten will, muß auch bereit sein, seine Landsleute zurückzunehmen, wenn diese kein Bleiberecht in Deutschland haben“, sagte Dobrindt. Auf EU-Ebene gehe es außerdem um den Schutz der Außengrenzen. Dafür benötige die EU-Grenzschutzagentur Frontex mehr Kompetenzen und Ausstattung.

„Pure Heuchelei und fast schon unverschämt“ 

Die AfD verwies unterdessen auf die Mitverantwortung der Union an der Flüchtlingskrise. „Ursächlich für das gegenwärtige Migrations-Desaster sind die fatalen politischen Weichenstellungen der Union, die die Ampel nahtlos fortführt“, sagte AfD-Fraktionschefin Alice Weidel. „Daß sich nun ausgerechnet Friedrich Merz diese Woche mit einem eigenen Show-‘Flüchtlingsgipfel’ und einem Positionspapier zur Asyl- und Flüchtlingspolitik versucht zu profilieren, ist pure Heuchelei und fast schon unverschämt.“ Daß der Druck wächst, zeigt sich auch daran, daß in der vergangenen Woche eine Reihe von SPD-Abgeordneten aus dem Umfeld des „konservativen“ Seeheimer Kreises in die Offensive gegangen sind. In einem Positionspapier fordern sie die eigene Bundesregierung nach Informationen des Spiegel auf, Kommunen bei der Unterbringung von Geflüchteten finanziell zu entlasten. „Die Kommunen müssen von Kosten freigehalten werden, die durch die Aufnahme Geflüchteter zusätzlich anfallen“, heißt es in dem Dokument. 

Daneben fordern die Parlamentarier, das Aufenthaltsrecht zu modernisieren und unter anderem die Arbeitsverbote für Asylbewerber abzuschaffen. Zudem müsse nach dem Willen der SPD-Abgeordneten mehr abgeschoben werden. „Eine effektive stichtagsbezogene Abschiebepraxis soll das Signal versenden, sich nicht auf den lebensgefährlichen Weg zu machen, wenn die Abschiebungswahrscheinlichkeit hoch ist.“ Während in Berlin weiter über die Flüchtlingskrise gestritten wird, verschärft sich die Situation in den Kommunen täglich. „Normalerweise gibt es in Berg-

neustadt rund 110 Flüchtlinge. Jetzt sind noch 270 Flüchtlinge aus der Ukraine dazugekommen“, zitiert die Tagesschau den Bürgermeister der Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, Matthias Thul. Das Problem sei der Übergang von städtischen Unterkünften in normale Wohnungen. „Wir haben keinen freien Wohnraum, das gibt der Markt nicht her.“ Thul hält auch die Betreuungskapazitäten für nicht ausreichend. „Meistens kommen Frauen mit Kindern. Die müssen dann auch noch in Kindergärten und Schulen. Der Aufnahmewille ist groß, aber es fehlt an Platz und Personal.“ 

Eine Situationsbeschreibung, die stellvertretend für viele Kommunen in Deutschland steht. Und die Verantwortlichen wissen: Die Stimmung in der Bevölkerung könnte endgültig kippen, wenn der Migrationsdruck unvermindert anhält – und darauf deutet derzeit alles hin: In den ersten zwei Monaten des Jahres stellten bereits 58.802 Ausländer einen Asylantrag in Deutschland. Ein Anstieg um 84,5 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres.