© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/23 / 31. März 2023

Rechter Lungenflügel Preußens
Stiefkind der Forschung: Aufsätze zur Geschichte Ostdeutschlands in der Weimarer Republik
Oliver Busch

Im Krisenjahr 1923 in Königsberg gegründet, feiert die Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung in sechs Wochen ihren 100. Geburtstag. Wie das Programm der aus diesem Anlaß in Berlin stattfindenden Tagung verrät, beschäftigt sie sich dann mit ihrer eigenen Geschichte. Ein Abstecher in die Zeitgeschichte, der Seltenheitswert hat, wie eine Musterung der Inhaltsverzeichnisse ihres Organs, der seit 2010 gemeinsam mit der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens herausgegebenen Zeitschrift Preußenland beweist. Denn drei Viertel der dort veröffentlichten Beiträge widmen sich der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte, überschreiten also nicht einmal die Schwelle ins 19. Jahrhundert.

Bei den Historischen Kommissionen für Pommern und Schlesien sieht es nicht viel anders aus. Auch ihre Forschungsschwerpunkte liegen in vormodernen Zeiten. Vor diesem Hintergrund schien es für die Preußische Historische Kommission, die zuständig ist auch für die Provinzen jenseits von Oder und Neiße, dringend geboten, endlich einmal diesen „rechten Lungenflügel Preußens“ in zeithistorischer Perspektive zu betrachten und sich dafür auf die Weimarer Republik zu konzentrieren. Die Ergebnisse einer dazu im November 2019 in Berlin veranstalteten Tagung liegen jetzt in einer von Manfred Kittel (Berlin/Regensburg), Gabriele Schneider und Thomas Simon (beide Wien) edierten Aufsatzsammlung vor. 

Diese bietet einerseits eine Bestandsaufnahme der desolaten Forschungssituation, erkundet andererseits in einigen Studien weitgehend unentdecktes Land. Das gilt in erster Linie für zwei Aufsätze zur „politiknahen Baukultur“. Nils Aschenbeck (Bad Kissingen) beleuchtet den Wiederaufbau der bei der russischen Invasion und mehrmonatigen Besetzung Ostpreußens zu Beginn des Ersten Weltkriegs verwüsteten Ortschaften. Erich Göttgen, der von ihm zitierte zeitgenössische Chronist des Wiederaufbaus, zählte in den von zaristischen Armeen heimgesuchten Kleinstädten, Dörfern und Gütern nicht weniger als 42.000 total zerstörte Gebäude. Diese wurden zwischen 1915 und 1925 im Rekordtempo durch Neubauten ersetzt, die unter staatlicher Regie einheitlich nach den Ideen der Reformarchitektur gestaltet wurden. Ostpreußen sei durch dieses „Architekturexperiment“ zum „Modell für Deutschland und darüber hinaus“ geworden, insoweit die randständige Provinz das in den 1920er Jahren überall im Reich einsetzende „Neue Bauen“ prägte. Wie Ingo Sommer (Kleinmachnow) im Anschluß an Aschenbeck ergänzt, ließe sich von der Zwischenkriegsarchitektur im Osten und in Berlin die mythisierte Bauhaus-Architektur, die nach 1945 zu weltumspannender Bedeutung stilisiert wurde, leicht entzaubern: Nicht das thüringische Weimar oder das anhaltinische Dessau seien die Zentren, sondern die preußische Metropole Berlin sei „Hauptstadt des Neuen Bauens“ geworden. Und diese wiederum weit nach Königsberg, Danzig und Breslau ausstrahlende, viele Gemeinsamkeiten mit der Klassischen Moderne Westeuropas aufweisende neusachliche Baukunst im Freistaat Preußen sei auch kein direkt zur NS-Architektur führender „Sonderweg“ gewesen.

Scheunentorgroße Leerstellen der Forschung von 1871 bis 1945

Beide Aufsätze demonstrieren exemplarisch, wie sich das bundesdeutsche Bild von der jüngeren preußischen Geschichte sofort ändert, wenn es den Osten berücksichtigt. Dabei wirkt das von Aschenbeck und Sommer allein bestrittene Kapitel „Baukultur“ nur wie ein Platzhalter. Denn genauso wie die außenpolitischen Dimensionen des Themas, etwa die Spannungen mit der 1918 an den Grenzen der preußischen Ostprovinzen und teils auf deren Kosten neuerstandenen Republik Polen, außen vor geblieben sind, so habe man bis auf die Baukunst auf alles Kulturhistorische verzichtet. Das hätte ein „eigenes Buch“ erfordert, wie die Herausgeber mit viel Mut zur Untertreibung ihre Beschränkung auf die innenpolitischen Entwicklungen Ostdeutschlands begründen. In der Tat weist die Forschung zur Kultur- und Geistesgeschichte der preußisch-deutschen Ostprovinzen zwischen 1871 und 1945 Scheunentorgroße Leerstellen auf. 

Erinnerungspolitisch mündet diese Vernachlässigung in die Sackgasse des Vergessens, da Vergangenes um so tiefer im kollektiven Gedächtnis verankert ist, je näher es der Gegenwart rückt. Im Medium der Geschichte von Kultur, Wissenschaft und Religion, von Kunst, Literatur und Theater dürfte darum für Ostdeutschland nachhaltigere Aufmerksamkeit zu erzielen sein als mit 1.000 Miszellen zum Siedlungswerk des Deutschen Ordens. Was ein halbes Jahrtausend zurückliegt, daran ist lediglich positivistischer Gelehrtenfleiß zu erproben, aber ein breiteres Interesse an ostdeutscher Landesgeschichte ist mit solchem Stoff nicht zu erregen, zu schweigen davon, daß er Potential zur Stiftung von Identifikation enthielte.    

Wie der vorliegende Band mit Arbeiten zur regionalen Politikgeschichte Pommerns, Danzigs, Ostpreußens und Schlesiens dokumentiert, liefert die ostdeutsche Zeitgeschichte „Weimar-Preußens“ hingegen diesen Stoff reichlich, für beides, für Interesse und Identifikation, was von erheblicher geschichtspolitischer Bedeutung in einer Zeit, in der mit der Grünen-Politikerin Claudia Roth die Repräsentantin einer Generation ins Amt der Kulturstaatsministerin eingezogen ist, die von Preußen offenkundig nur weiß, was das Alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 über diesen Staat behauptet: „seit jeher der Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ gewesen zu sein. 

Ein Satz, an dem „alles falsch“ sei, wie eingangs Horst Möller, ein Altmeister der Preußenforschung, anhand der politischen und verfassungsrechtlichen Entwicklungen seit 1919 ausführt. Sei doch in Preußen ein konsequent parlamentarisches und nicht wie im Reich, nur ein semiparlamentarisches Regierungssystem etabliert worden, das sich daher auch mit seinen sieben Landesregierungen im Unterschied zu den 21 Reichsregierungen als wesentlich stabiler erwies als das der Reichsverfassung. Kein Wunder, daß der vermeintliche „Obrigkeitsstaat“ sich bis zum Entscheidungsjahr 1932 bewährte, als Reichspräsident von Paul von Hindenburg durch eine erste Notverordnung die geschäftsführende und legale Regierung des Freistaates Preußen durch den Reichskanzler Franz von Papen als Reichskommissar ersetzte. Dieser „Preußenschlag“ war nicht weniger als ein Staatsstreich von oben gegen das „Bollwerk der Demokratie“.Diesem flossen die wohl stärksten Kräfte, geistig und personell, wie die Beiträge von Winfrid Halder und Guido Hitze (beide Düsseldorf) zeigen, aus dem „roten Schlesien“ zu. Aber im Gegensatz zu deren historischer Bedeutung kommt die Heimat von Ferdinand Lassalle und Paul Löbe in der Liste der von der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgewählten „Erinnerungsorte“ der SPD-Geschichte nicht vor. Weil darin an nichts erinnert werden soll, was „östlich der heutigen Grenze der Bundesrepublik Deutschland zu Polen“ liege. Was könnte die Unentbehrlichkeit ostdeutscher Zeitgeschichte für die nationale Identitätsbildung schlagender beweisen als so krankhafte Selbstvergessenheit?

Manfred Kittel, Gabriele Schneider, Thomas Simon (Hrsg.): Preußen und sein Osten in der Weimarer Republik. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2022, broschiert, 383 Seiten, Abbildungen, 119,90 Euro