© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/23 / 31. März 2023

Verschiebungen im Schulddiskurs
Susan Neiman und Michael Wildt leiten einen Sammelband über die Frage nach der Singularität des Holocausts in der Reflexion der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland
Thorsten Hinz

Der Buchtitel „Historiker streiten“ spielt auf den Piper-Band von 1987 an, der die wichtigsten Texte der Kontroverse versammelt, die als „Historikerstreit“ legendär wurde. In wissenschaftlicher Hinsicht war die Auseinandersetzung unergiebig; um so größer war ihre politische Wirkung. Im Ergebnis zementierte sie die Erzählung – das Narrativ – von der gleichsam außer- und übergeschichtlichen „Singularität“ des Holocaust, die zu bezweifeln fast so schlimm war wie seine Leugnung.

Tempi passati. Die Herausgeberin des Sammelbandes aus dem Propyläen Verlag, die in Potsdam tätige Philosophin Susan Neiman, spottet nun, man habe die Singularitätsthese behandelt, „als ob sie ein Teil der Heiligen Schrift wäre, und nicht eine sinnvolle politische Intervention in einem bestimmten historischen Kontext“. Davon abgesehen, daß es statt „historisch“ korrekterweise „zeitgeschichtlich“ heißen müßte, räumt Neiman ein, daß es sich um einen Machtdiskurs, eine geschichtspolitische Disziplinierungsmaßnahme, um schwarze Pädagogik handelte, die nun im immer bunteren Deutschland immer weniger verfängt. Einwanderer aus dem Orient und Afrika pochen darauf, daß europäische Kolonisatoren mit ihren Vorfahren nicht weniger singulär verfahren sind als die Nationalsozialisten mit den Juden.

Die allermeisten der im Buch versammelten Autoren „streiten“ gar nicht über historische Tatsachen, über moralisierende Behauptungen, Gleichsetzungen und erst recht nicht über die Sinnhaltigkeit des eigenen Tuns in Vergangenheit und Gegenwart, sondern sie überlegen bloß, wie der Kolonialismus – der ja nur in geringem Maße eine deutsche Angelegenheit ist – in den Schulddiskurs integriert werden kann, ohne die „deutsche Schuld zu verkleinern“.

Den einzigen Lichtblick bietet der Text des Australiers A. Dirk Moses, der unter dem Titel „Katechismus der Deutschen“ vorab in Teilen durch die Medien ging. Moses belustigt sich über die „doktrinäre Glaubenslehre“, in der ein „erlösender Philosemitismus“ die Antwort auf den „erlösenden Antisemitismus“ der Nationalsozialisten bildete. Der Gedenk-Funktionär Volkhard Knigge gibt sich im Streitgespräch mit Moses geradezu verzweifelt: „Ich verstehe nicht, warum man den Holocaust kleinreden oder beiseite schieben muß, um an andere Verbrechen zu erinnern, oder diese auf Biegen und Brechen dem Holocaust gleichmachen muß.“

Der Geschichtsprofessor Sebastian Conrad unterscheidet die „Erinnerung I“, die von Besatzung, Umerziehung, den Ansprüchen der „Jewish Claims Conference“ und der US-amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“ inspiriert war, von der „Erinnerung II“, die jetzt ansteht. Originell ist Conrads Deutung der Wiedervereinigung: Mit ihr „hatte die Bundesrepublik (Holocaust) gegen die DDR (verordneter Antifaschismus) gesiegt“. Die 0:1- Niederlage, die die bundesdeutsche Mannschaft bei der Fußball-WM 1974 gegen die DDR erlitten hatte, wurde endlich wettgemacht!

Der Historiker Mario Kessler, aufgrund seiner DDR-Herkunft einer der Besiegten Conrads, erweist sich als anschlußfähig. Der Holocaust sei „eine extreme Form imperialistischer Ideologie und Praxis“ und ohne den Kolonialismus undenkbar gewesen. „Die faschistischen Mächte standen gegen Aufklärung, Demokratie und Menschenwürde, ihre Gegner verteidigten diese.“ Demnach wäre Stalin der effektivste Streiter für Aufklärung, Demokratie und Menschenwürde gewesen! Jan Philipp Reemtsma erhält die Gelegenheit, seine 1995 veranstaltete Wehrmachtsausstellung als „historisch“ abzufeiern, weil sie „die Allianz von parlamentarischer Rechter und außerparlamentarischen Rechtsradikalen“ beendete. Vorgestrig wirkt der Beitrag von Sami Khatib, der als „Vertretungsprofessor für Kunstwissenschaft und Medienphilosophie“ vorgestellt wird. Khatib sinnt über die Wirkung des „singulären Menschheitsverbrechens“ nach, das zu einer „singulären Erinnerungskultur“ geführt“, aber auch unkalkulierbare „Singularitätseffekte“ nach sich gezogen habe, zum Beispiel den Wettstreit „um die diskursive Anerkennung als „singulärste Opfergruppe“. Es dürfte sich um einen der singulärsten Texte der Weltgeschichte handeln. 

Ende der Aufzählung. Wie das neue Narrativ, das auch bloß „eine politische Antwort auf bestimmte historische Verhältnisse“ geben soll, aussehen wird, kann man sich an einem Finger abzählen: Schwarzbunte Volkspädagogik. Die Worte „Narratoren“ und „Narren“ haben unterschiedliche etymologische Wurzeln, aber hier bezeichnen sie dasselbe.

Susan Neiman, Michael Wildt (Hrsg.): Historiker streiten. Gewalt und Holocaust – die Debatte. Propyläen Verlag. Berlin 2022, broschiert, 368 Seiten, 26 Euro