Eigentlich hatte alles hoffnungsfroh begonnen. Wilhelm II., seines Zeichens junger Kaiser eines aufblühenden Reiches, wollte die ihm anvertrauten Bürger seines Staates ausdrücklich alle auf gerechte Weise beherrschen. Neuen Ideen gegenüber zeigte sich der Monarch dabei durchaus aufgeschlossen, was sich für deren polnischstämmigen Anteil bald nach der Thronbesteigung in einer Welle an Zugeständnissen und Erleichterungen äußerte. Die Ära Wilhelms II. begann also mit der Zulassung von Privatunterricht in polnischer Sprache an Schulen, gefolgt von der Ernennung eines polnischen Wunschkandidaten für die Erzbistümer in Posen und Gnesen. Dazu kamen eine deutliche Erweiterung der Rechte des polnischen Kredit- und Bankenverbandes sowie eine Entschärfung der bisherigen Praxis, polnische Rekruten möglichst weit weg von zu Hause zu stationieren.
Bei solchen positiven Entwicklungen blieb es aber nicht, weshalb das zu besprechende Buch für den Deutschen Kaiser die wenig schmeichelhafte Bezeichnung vom „Polenfresser“ verwendet, der gegen die „Reichsfeinde“ gestanden hätte. Wirklich berechtigt ist das nicht, daran läßt die Darstellung von Piotr Szlanta, Professor für Geschichte an der Universität Warschau, keinen Zweifel. Szlanta gibt an, mit seinem Untersuchungsthema eine Lücke in der bisherigen Literatur über Wilhelm II. zu füllen, da dessen Haltung zu Polen darin durchgehend keinen prominenten Platz einnimmt. Dazu verwendet der Autor auch neue Quellen, die in einem Jahr Forschungsaufenthalt in Berlin erschlossen wurden. Vorwiegend erzählt er allerdings über die polnische Haltung zum Kaiser, nicht umgekehrt.
Dem Eindruck der Lektüre nach liegt das vorwiegend am Desinteresse des deutschen Kaisers und preußischen Königs, dessen Einstellung wie in vielen anderen politischen Fragen auch im Fall Polen eher eine Angelegenheit der Tagesstimmung gewesen ist. Im aufgereizten Ärger über den hinterhältigen russischen Angriff versprach er im August 1914, Polen aus Rußland herauszulösen und als Staat wieder neu zu gründen. Er hielt Wort und ließ 1916 ein polnisches Königreich ausrufen, das allerdings weder genaue Grenzen noch einen König hatte und von polnischer Seite eher als erster Vorschuß auf die Erfüllung weit größerer Forderungen betrachtet wurde. „Polen ist ja von mir überhaupt erst geschaffen worden“, erklärte Wilhelm II. später dennoch gelegentlich. „Größenwahn“ nennt das der Autor.
In anderen Stimmungslagen sprach der Kaiser entsprechend negativ über Polen und dessen Einwohner. Exzentrisch und leicht erregbar, wie Wilhelm II. charakterlich geraten war, füllte er sowieso die Schlagzeilen und Karikaturenseiten der Weltpresse mit dankbar genutztem Material. In Polen regte man sich über seine blumigen Drohungen auf, mit denen die Phase des eingangs erwähnten ersten Wohlwollens im Jahr 1894 zu Ende ging. Grenzübergreifende polnische Nationalfeiern mit der Beschwörung der Einheit der in den drei Teilungsmächten Deutschland, Rußland und Österreich weiter existierenden polnischen Nation hatten die Atmosphäre verändert. Wilhelm II. ließ bei einem Aufenthalt in Thorn an der Weichsel wissen, er vermisse angesichts dessen die gebührende Loyalität seiner Staatsangehörigen und könne „auch sehr unangenehm“ werden. Seine bei anderer Gelegenheit vermittelte Ansicht, „Kultur und Freiheit“ in dieser Region seien eine deutsche Angelegenheit und damit eben keine polnische, hob die Stimmung ebenfalls nicht. Die Repräsentanten der polnischen Oberschicht brachen den Kontakt ab und blieben künftigen kaiserlichen Besuchen, etwa in Posen, demonstrativ fern. Man glaubte, sich das leisten zu können.
„Keine objektiven Gründe“ für Dankbarkeit gegenüber Wilhelm II.
Auf der anderen Seite sah der deutsch-polnische Alltag auch immer wieder Szenen der Zusammenarbeit. So benötigte ein repräsentatives Königs- und Kaiserhaus natürlich finanzielle Ausstattung aus Steuermitteln. Der Staat Preußen wendete zu diesem Zweck für seinen König, der laut Reichsverfassung seit 1871 automatisch den Titel „Deutscher Kaiser“ trug, ab 1868 jährlich 12,2 Millionen Mark auf. Dieser Etat sollte im Jahr 1910 nach verschiedenen Zwischenstufen auf 19,2 Millionen Mark aufgestuft werden. Inwieweit dieser – nach heutiger Kaufkraft in dreistelliger Euro-Millionenhöhe befindliche – Betrag dem Anspruch preußischer Sparsamkeit entsprach, wurde damals teilweise polemisch hinterfragt. Die polnischen Abgeordneten im preußischen Abgeordnetenhaus stimmten der Erhöhungsvorlage dennoch zu, unter anderem mit der biblischen Begründung „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“.
Man erwarte aber im Gegenzug die Achtung der Interessen des polnischen Volkes, denn „Justitia fundamentum regnorum!“, rief der Abgeordnete Ludwik von Jazdzewski am Ende seiner Rede aus. Ein solch geradezu christlich-bildungsbürgerlicher Debattenstil blieb allerdings die Ausnahme, und die Zustimmung selbst fand in Polen überwiegend scharfe Kritik. Man redete sich teilweise in Rage. Piotr Szlanta präsentiert dazu eine Auswahl an Pressestimmen, in denen teilweise von einer Erniedrigung des polnischen Volkes durch sich selbst die Rede war, von „tanzenden Sklaven in Ketten“. Auch zu Demonstrationen wurde aufgerufen, denn die preußische Herrschaft habe unter Wilhelm II. „barbarische Formen“ angenommen. Trotz teils deftiger Wortwahl konnte dies alles im liberalen deutschen Kaiserreich folgenfrei erscheinen. Lediglich ein Redakteur aus Gnesen, der einen direkten persönlichen Angriff auf den Kaiser formuliert hatte, erhielt wegen Majestätsbeleidigung einige Monate Haft.
Der Autor zieht ein merkwürdiges Fazit: „Für eine Dankbarkeit der Polen gegenüber dem letzten Hohenzollern auf dem Thron gab es keine objektiven Gründe, außer vielleicht, daß Deutschland unter seiner Herrschaft ein Rechtsstaat blieb und sich wirtschaftlich rasch entwickelte.“ Das ist beides nicht wenig, möchte man meinen. Schließlich entwickelte sich der Erste Weltkrieg wohl nicht zuletzt deswegen zur Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, weil ihn die falsche Seite gewann, ein Vakuum blieb und die politische Auseinandersetzung in Europa für Jahrzehnte danach tatsächlich „barbarische Formen“ annahm, von denen vor 1914 im Deutschen Kaiserreich noch niemand eine echte Vorstellung hatte, geschweige denn, er hätte sie dort erlebt. Mit dem Ende der preußischen Herrschaft waren auch Rechtsstaat und Wohlstand bei seinen ehemaligen polnischen Bürgern auf Jahrzehnte hinaus erst einmal Geschichte.
Piotr Szlanta: Der „Polenfresser“ gegen die „Reichsfeinde“. Kaiser Wilhelm II. und die Polen 1888–1918. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2022, broschiert, 236 Seiten, 22 Euro