Nicht erhalten, sondern geändert werden müßte einiges in Deutschland. Die in Berlin und anderswo zuständigen Politiker sehen das natürlich anders. Liberal sind sie längst nicht mehr, dafür pflegen sie die Masche des Utopismus, des Zusammenhalts und eines hohlen Optimismus. Deutschland solle sich „unterhaken“, wünschte sich Bundeskanzler Olaf Scholz am Silvesterabend 2022. Nordrhein-Westfalen sei ein „Land der Gemeinsamkeit“, beteuerte CDU-Landeschef Hendrik Wüst. „Wir lassen Sie nicht im Stich“, versprach Manuela Schwesig den Mecklenburgern und Vorpommern. Der Vorsorgestaat, so lautet die Botschaft, kann alles, lindert alles und zahlt alles.
Und wenn die ohnehin hohen Steuereinnahmen nicht ausreichen, dann werden verfassungswidrige Extraschulden gemacht. Sie heißen skurrilerweise „Sondervermögen“. Denn Vermögen klingt besser als Schulden. Neu ist der Trick nicht, seit 2008 kamen auf diese Weise Kreditermächtigungen in Höhe von 1,5 Billionen Euro zusammen. Die junge Generation wird es abzahlen. Ihr dilettierender Teil aber stört sich nicht daran, weiß davon nichts und stellt lieber das Personal für die Klimakleber. Und die anderen? Sie kassieren die kleinen Geschenke und großen Subventionen des paternalistischen Staates, sind aber nicht beeindruckt vom Polittheater. Die Umfrage, die vom Meinungsinstitut Forsa in der ersten Januarwoche 2023 veröffentlicht wurde, fiel katastrophal aus. Gefragt wurde nach dem Vertrauen, das zehn Institutionen in Deutschland genießen. Der Bundespräsident kam noch am glimpflichsten davon, das Vertrauen in ihn sank nur um 12 auf 63 Prozent. Sein Spitzenplatz erklärt sich wohl damit, daß er für nichts verantwortlich gemacht wird, weil er keine konkrete Verantwortung trägt. Das Vertrauen in den Bundeskanzler hingegen implodierte innerhalb eines Jahres von 57 auf 33 Prozent, das der gesamten Bundesregierung auf 34 Prozent. Auf die letzte Stelle abgerutscht sind die Parteien. Nur noch 17 Prozent der Deutschen vertrauen ihnen. Das liegt gefährlich nahe bei null, es paßt nicht zu einer lebendigen Demokratie. „Die Deutschen sind es erkennbar leid“, kommentierte dazu die Neue Zürcher Zeitung am 4. Januar 2023, „mit inflationär hinausposaunten moralischen Aufrufen abgespeist zu werden, während die Dysfunktionalität des Staates zunimmt.“
Manches funktioniert noch, zu vieles nicht oder nicht gut. Weltmeister aller Demokratien freilich bleibt Deutschland in bezug auf die Größe seines Parlaments. Nur im chinesischen Volkskongreß sitzen mehr Abgeordnete. (...) Selbstverständlich sitzen im Bundestag auch Leute, die ihr Geld wert sind. Würde er um die Hälfte verkleinert und würden die Abgeordneten doppelt so gut bezahlt, wäre er vielleicht attraktiver für Selbständige, Handwerker, Facharbeiter und mittelständische Unternehmer. Dann könnte er vielleicht dank Kompetenz und Erfahrung ein Gegengewicht zur Regierung bilden. Dann wäre die Gewaltenteilung wieder intakt. Aber ist das erwünscht? Volksvertreter, die alle vier Jahre um die Wiederwahl und die 10.000 Euro und die Pension bangen müssen, sind für die Fraktions- und Parteiführung leichter zu handhaben. Man muß sich nur einmal vorstellen, was passieren würde, wenn sie über ein von Brüssel nach Berlin übermitteltes Gesetz mit Nein abstimmten. Da funktioniert das Beutesystem (im Englischen „Spoil“ genannt) im Sinne seiner Profiteure besser. Es wuchert mit der Kraft eines unterirdischen Pilzgeflechts.
Nicht nur in den Parlamenten, überall im Land ist Beute zu verteilen: bei staatlichen und halbstaatlichen Agenturen, in den Rundfunkräten und öffentlich-rechtlichen Redaktionen, an externe Berater, ohne die die Regierung nicht mehr regieren kann, und an das Heer der politisch vernetzten Lobbyisten, die dafür belohnt werden, daß sie der Partei zugearbeitet haben. (…)
Daß die Einwanderung außer Kontrolle geraten könnte, daß Ausländer ganze Straßenzüge als ihr Hoheitsgebiet betrachten würden, daß sich in Deutschland rund vierzig mafiose Großfamilien und Clans etablieren würden, daß die irreguläre Migration Deutschland als intakten National- und Rechtsstaat in Frage stellen könnte, daß zudem enorme finanzielle Kosten auflaufen würden – das alles war in den ersten Jahrzehnten der Einwanderung nicht absehbar. Mehr noch, es war unvorstellbar. Nicht vorstellbar war auch eine Finanzhilfe für illegale Immigration durch eine Bundesregierung. Eben das ist Anfang Januar 2023 in die Wege geleitet worden, als der Haushaltsausschuß des Bundestages auf Wunsch der Evangelischen Kirche, die nur noch Restbestände des deutschen Protestantismus verwaltet, zwei Millionen Euro an Steuergeldern pro Jahr für die kirchliche „Seenotrettung“ im Mittelmeer bewilligte. Das Geld kommt dem Bündnis „United4Rescue“ mit seinen drei Schiffen zugute. Ein weiteres Mal verwischt die Bundesregierung damit die Grenze zwischen Staat und Nichtregierungsorganisationen (NGOs), ein weiteres Mal blockiert sie die seit langem überfällige gemeinsame europäische Migrationspolitik, ein weiteres Mal brüskiert sie Italien, das dem Ansturm über die Mittelmeerroute ausgesetzt ist. Was als Seenotrettung ausgegeben wird, läuft auf eine Arbeitsteilung mit multinationalen Verbrecherorganisationen hinaus, die laut einer Titelgeschichte von Newsweek vom 19. Juni 2015 schon damals rund sechs Milliarden Euro umsetzten, nachdem sie den Menschenschmuggel als renditestarkes Geschäft entdeckt hatten. Die Syndikate organisieren für mehrere tausend Dollar pro Person die Schleusung aus dem inneren Afrikas nach Libyen, setzen die Migranten auf seeuntüchtige Boote, wofür sie noch einmal kassieren, und überlassen den Weitertransport Schiffen wie „Humanity 1“ oder „Sea-Watch“, die unter deutscher Flagge fahren. Dabei erfüllen die Schiffe keine „christliche Uraufgabe“, wie sich der Flüchtlingsbischof Christian Stäblein rühmte, sondern sind mitverantwortlich für die andauernde Tragödie mit Tausenden von Toten im Mittelmeer. Austrocknen läßt sich die Schleuserkriminalität so nicht. (…)
Daß Menschen nach Deutschland einwandern oder aus Deutschland auswandern, ist nichts Neues. Im 17. Jahrhundert wurden die Hugenotten vom Preußenkönig gerufen, brachten ihr Gewerbe mit und bereicherten das Land. Im 19. Jahrhundert emigrierten Millionen Menschen über die Nordseehäfen nach Amerika und hatten maßgeblichen Anteil am Aufstieg der USA. Vor dem Ersten Weltkrieg kamen regelmäßig Saisonarbeiter aus Osteuropa und halfen bei der Ernte. 1955 wurden die ersten Gastarbeiter aus Italien angeworben, obwohl damals in der Bundesrepublik noch 1,1 Millionen Arbeitslose registriert waren. 1960 folgten Verträge mit Spanien und Griechenland, 1961 ein Abkommen mit der Türkei, gefolgt von Portugal, Marokko, Tunesien und 1968 schließlich Jugoslawien. Irregulär war daran nichts. Der deutsche Staat war Herr des Verfahrens. Die Gastarbeiter wurden von der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung direkt im Ausland angeworben. Die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis galt für ein Jahr, später für zwei Jahre. Der deutsche Staat war völkerrechtlich noch nicht vollständig souverän, aber er definierte sich über sein Volk und über Grenzen, die nicht offenstanden, sondern bewacht wurden. Die Einwanderung in den Sozialstaat lag noch in ferner Zukunft. (…)
Man muß keine Verschwörungstheorie wie die vom „Großen Austausch“ bemühen, um nachzuweisen, daß hinter der von einflußreichen internationalen Organisationen forcierten Migration postnationale und postdemokratische Motive stecken. Als repräsentativer Zeuge kann Peter Sutherland (1946–2018) dienen. Er war Chef des „Global Forum on Migration and Development“ und hervorragend vernetzt, so mit der EU-Kommission und dem amerikanischen Council on Foreign Relations. In einem Interview mit dem News Centre der Uno vom 2. Oktober 2015 spielte er auf die niedrige deutsche Geburtenrate an. Sie erfordere es, „daß eventuell über eine Million Einwanderer pro Jahr im Verlauf der nächsten 30 Jahre herkommen“. Er bemängelte die Integrationsfähigkeit nicht etwa der Einwanderer, sondern der Einheimischen und behauptete, „daß Souveränität eine absolute Illusion ist, die wir hinter uns lassen müssen“. Um eine bessere Welt aufzubauen, müßten „einige alte historische Erinnerungen und Bilder unseres eigenen Landes abgeschafft werden“. Ein ungeschminkter Aufruf zur Kulturzerstörung und zur Destruktion all dessen, was Europa liebens- und lebenswert macht. Der Zusammenhang mit dem Geburtendefizit ist freilich nicht aus der Luft gegriffen. Der Bevölkerungswissenschaftler Professor Herwig Birg, ein unermüdlicher Mahner, sprach schon vor 20 Jahren von einer „kompensatorischen Zuwanderungspolitik“. Damit meinte er die verdeckte Strategie gewisser Parteien und Regierungen, die eigenen Geburten durch Einwanderung zu ersetzen. Ein Weg, den bekanntlich Japan bewußt nicht gegangen ist. Gezielte Maßnahmen, um die Zahl der Geburten zu steigern, waren und sind tabu – es würde sich ja um Bevölkerungspolitik handeln. (…)
Pauschalurteile helfen auch deswegen nicht weiter, weil das alte Deutschland in der Provinz und in den meisten Kleinstädten gesellschaftlich intakt geblieben ist, in manchen Großstädten aber nicht. Dort von Überfremdung zu sprechen ist keine Übertreibung, es ist eine Zustandsbeschreibung. In solchen Städten wird die alte Mehrheit zur neuen Minderheit. Selbst in Frankfurt, das nicht für bürgerkriegsähnliche Zustände an Silvester bekannt ist, leben seit 2016 mehr Menschen mit Migrationshintergrund als solche ohne. An den Schulen stellen deutsche Kinder ohne Einwanderungsgeschichte nur noch 30 Prozent. Das Viertel um den Hauptbahnhof taugt schon lange nicht mehr als Visitenkarte der einst stolzen Stadt – es ist heruntergekommen und schäbig. Daß man auf Frankfurts Straßen 200 Sprachen hört, wie die Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg (Grüne) in der FAZ vom 4. Januar 2023 lobend hervorhob, muß nicht von Vorteil sein. Auch nicht, daß sich die Bevölkerung Frankfurts statistisch alle 15 Jahre austauscht, wie die Bürgermeisterin verriet. Der Wertekonsens, auf den sie hofft und der die Gesellschaft zusammenbringen soll, wird sich so nicht einstellen.
Auch in Berlin nehmen besorgte Eltern ihr Kind von der Schule, wenn dort in der Pause kaum noch Deutsch gesprochen wird, und suchen sich anderswo eine bessere. Das gut situierte Bürgertum meidet die heruntergekommenen Stadtteile. Diejenigen Migranten, die sich den Umzug nicht leisten können und Wert auf Recht und Ordnung legen, sind die Opfer eines Senats, der wegschaut. Nicht die Provinz, sondern die Großstädte waren schon immer die Labore, in denen Zukunft gemacht wird. Sie setzen die politischen und gesellschaftlichen Trends. Wenn zugelassen wird, daß die beschriebene Entwicklung sich fortsetzt, wird es ungemütlich werden in Deutschland. 200.000 Migranten aus meist fremden Kulturen in einem Jahr entsprechen der Einwohnerzahl von zwei Großstädten. (…)
Bevor sich an der verfahrenen deutschen Migrationspolitik etwas ändert, müssen Illusionen abgelegt und muß eine ehrliche Bilanz gezogen werden. Stattdessen legte die Ampelregierung noch 2022 ein Paket vor, das – unter Berufung auf den Koalitionsvertrag – Deutschland zu einem „modernen Einwanderungsland“ machen und einen „Paradigmenwechsel“ einleiten soll. Dorothea Siems schrieb dazu am 4. Dezember 2022 in der Welt am Sonntag: „Die Ampel baut sich ein Luftschloß.“ So ist es. Die angeblich moderne Einwanderungspolitik hat zum Inhalt, daß Einbürgerung erleichtert wird – wobei auch das verlangte Sprachniveau geringer sein kann als bisher –, daß weiterhin die mehrfache Staatsangehörigkeit erlaubt wird, daß früher nur geduldete Migranten künftig langfristig bleiben können, daß sogenannte Fachkräfte mit einer „Chancenkarte“ und abgesenkten Anforderungen ins Land gelockt werden sollen. Bisher kamen nur wenige, weil hochqualifizierte Kräfte Länder vorziehen, in denen die Steuern niedriger sind und in denen sie sich wohler fühlen.
In Deutschland ist nicht einmal die Absicht erkennbar, Einwanderung zu steuern und zu kontrollieren. Während die Landkreise die ausufernden Kosten kaum noch stemmen konnten und viele Kommunen mit der Unterbringung der Flüchtlinge am Limit waren, fiel der Bundesregierung in ihrem ersten Amtsjahr nichts Besseres ein, als neue Aufnahmeprogramme für 40.000 Afghanen zu beschließen. (…)
Dr. Bruno Bandulet ist Herausgeber des „Deutschland-Briefs“ (erscheint in „eigentümlich frei“). 2016 veröffentlichte er das Buch „Beuteland. Die systematische Plünderung Deutschlands seit 1945“
Bruno Bandulet: Rückkehr nach Beuteland. Deutschland und das Spiel um Macht, Geld und Schuld. Kopp Verlag, Rottenburg a. N. 2023, gebunden, 300 Seiten, 22,99 Euro Der hier veröffentlichte Text ist – mit freundlicher Genehmigung des Autors – ein adaptierter Auszug aus dem Buch.