© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/23 / 31. März 2023

Die Kassandra aus dem Mittleren Westen
Literatur: Der US-Schriftsteller Cormac McCarthy hat mit dem Doppelroman „Der Passagier“/„Stella Maris“ ein beeindruckendes Alterswerk vorgelegt – und wird sich selbst doch nicht ganz gerecht
Ludwig Witzani

Cormac McCarthy gehört zu den großen amerikanischen Romanciers, die seit Jahrzehnten vom Literaturnobelpreiskomitee in Stockholm übersehen werden. Ein in alle Kultursprachen übersetztes Œuvre von zehn großen Romanen bleibt auf eine penetrante Weise unbeachtet, während ein Zeitgeistgigant nach dem anderen in den literarischen Olymp aufsteigt. 

Einer der Gründe für diese Nichtbeachtung liegt zweifellos in der ausgeprägten Antimodernität dieses Autors. Denn bei Cormac McCarthy wird man Trans- und Gendertum ebensowenig finden wie  emanzipierte Quotenfrauen. McCarthy ist ein unzeitgemäßer Prophet, der nicht müde wird, vor dem Untergang einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Welt zu warnen und ihre Grausamkeiten und Zumutungen anhand einer Spezies darzustellen, die immer weniger Anhänger hat: dem weißen, leidenden, gescheiterten Mann im Mittleren Westen der USA. Cormac McCarthy interessiert sich nicht für sexbesessene Solipsisten wie Michel Houellebecq, für die nur das eigene Ich existiert, oder bürgerliche Familienkrisen wie bei Jonathan Franzen, sondern sein Thema sind die Gescheiterten, die unter die Räder Gekommenen, die in ihrer Gefallenheit der Gesellschaft deren Wesen als Fratze widerspiegeln.

Alttestamentarische und zugleich poetische Sprachwucht

1933 in Rhode Island geboren, aufgewachsen als Anwaltssohn in Knoxville, Tennessee, abgebrochenes Kunststudium, vierjähriger Militärdienst, Gelegenheitsjobs, interessierte sich McCarthy schon früh vor allem fürs Schreiben. Bereits sein erster Roman „The Orchard Keeper“ aus dem Jahre 1965 (übrigens erst vor kurzem ins Deutsche übersetzt) spielt im gesellschaftlichen Abseits und beschreibt mit drastischer Sprache eine Mordgeschichte aus Tennessee. „Outer Dark“ (1968, dt. „Draußen im Dunkel“) erzählt vom bitteren Schicksal eines verwahrlosten Geschwisterpaares. Im Mittelpunkt von „Child of God“ (1974, dt. „Ein Kind Gottes“) steht der Werdegang eines nekrophilen Massenmörders, bei dem es schwerfällt zu glauben, daß er noch „ein Kind Gottes“ ist. In seinem vierten Roman „Suttree“ (1979, dt. „Verlorene“) verläßt McCarthy die Sphäre der Perversionen, aber nur, um eine Gemeinde von „normalen“ Versagern um so präziser zu beschreiben. Kein Wunder, daß diese herbe literarische Kost die Leser verstörte und sich bei aller wohlwollenden Kritik die Verkaufszahlen seiner Bücher lange Zeit in Grenzen hielten. Immerhin halfen ihm Stipendien verschiedener Einrichtungen dabei, seiner schriftstellerischen Profession weiter nachzugehen.

Höhepunkt und Abschluß dieser ersten Phase des McCarthyschen Werkes bildete der Roman „Blood Meridian“ (1985, dt. „Die Abendröte im Westen“), der die Exzesse der Indianerkriege des späten 19. Jahrhunderts wie einen blutigen Totentanz darstellte. Der Roman rüttelte auf erschütternde und überzeugende Weise am Selbstverständnis der USA und katapultierte seinen Autor in die erste Riege der amerikanischen Schriftsteller – auch wenn sich der Massenerfolg noch immer nicht einstellen wollte.

Der Autor mutet dem Leser nicht wenige Sprünge und Brüche zu

Das änderte sich erst mit der Veröffentlichung der Border-Trilogie in den neunziger Jahren. Hatte der Autor in „Blood Meridian“ den Untergang der Indianer schonungslos beleuchtet, so entfaltete er in seiner Trilogie das Drama der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Der erste Band „All the Pretty Horses“ (1992, dt. „All die schönen Pferde“) verkaufte sich auf Anhieb 190.000mal, plazierte sich auf der Bestsellerliste der New York Times und gewann den National Book Award. Jahre später wurde der Roman von Billy Bob Thornton mit Matt Demon, Henry Thomas und Penélope Cruz in den Hauptrollen verfilmt. Ähnlich gut liefen die Fortsetzungen „The Crossing“ (1994, dt. „Grenzgänger“) und „Cities of the Plain“ (1998, dt. „Land der Freien“). 

2005 erschien „No Country for Old Men“ (dt. „Kein Land für alte Männer“), das in der Verfilmung der Coen-Brüder ein cineastischer Welterfolg wurde und fünf Oscars einheimste. Die drei Hauptrollen in diesem Thriller um ein mißglücktes Drogengeschäft spielten Tommy Lee Jones, Javier Bardem und Josh Brolin. 2006 veröffentlichte Cormac McCarthy im Alter von 73 Jahren das dystopische Romanwerk „The Road“ (dt. „Die Straße“), in dem ein Vater und sein Junge durch ein postapokalyptisches Amerika reisen. Das mit dem Pulitzerpreis für Literatur ausgezeichnete Buch verkaufte sich mehr als eine Million Mal. Drei Jahre später wurde es von Regisseur John Hillcoat mit Viggo Mortensen und Kodi Smit-McPhee ebenfalls erfolgreich verfilmt.

Für viele war „The Road“ der logische Abschluß des McCarthyschen Gesamtwerks. Die in den ersten neun Büchern beschriebene katastrophal friedlose und dem Absturz entgegentaumelnde Welt war endlich in einer Apokalypse zusammengebrochen – imaginiert mit einer alttestamentarischen und zugleich poetischen Sprachwucht, die ihresgleichen suchte. Danach war eigentlich nichts mehr zu sagen. Abgesehen von einem Drehbuch zu dem Ridley-Scott-Film „The Counselor“ schwieg die Kassandra aus dem Mittleren Westen. Nur ganz selten gab der öffentlichkeitsscheue Schriftsteller noch Interviews. Wie es schien, hatte er alles gesagt, was zu sagen war. 

Dachte man. Bis im letzten Herbst, 16 Jahre nach „The Road“, der fast 90jährige McCarthy mit dem Doppelroman „Der Passagier“/„Stella Maris“ überraschend auf die literarische Bühne zurück-kehrte. Was hat es damit auf sich?

Der Doppelroman „Der Passagier“/„Stella Maris“ beschreibt das Schicksal von Bobby und Alicia Western, einem Geschwisterpaar aus dem Mittleren Westen der USA. Alicia Western ist eine hochbegabte, aber schizophrene junge Frau, die sich selbst in die Nervenheilanstalt Stella Maris eingeliefert hat, Bobby Western ein vagabundierender Tiefseetaucher, der sich in der Halbwelt von New Orleans herumtreibt. So unterschiedlich wie die Geschwister sind auch die beiden Romane, die ihnen zugeordnet sind. „Stella Maris“, der Roman Alicias, besteht vollständig aus Dialogen, die die junge Frau mit ihrem Psychiater führt. Im doppelt so langen Roman „Der Passagier“ steht der Bruder Bobby im Mittelpunkt, der bei einem Tauchgang im Golf von Mexiko ein Flugzeugwrack mit neun in ihren Sitzen festgeschnallten Leichen entdeckt. Wie sich herausstellt, fehlen der zehnte Passagier und der Flugschreiber.

Wer erwartet, daß sich nach dieser Einleitung in „Der Passagier“ eine kohärente Story entwi-ckelt, wird allerdings enttäuscht. Zwar kommt eine durchaus kafkaeske Stimmung auf, als Bobby Western ins Fadenkreuz des FBI gerät, dann aber verschwindet die Frage nach dem Verbleib des Passagiers ebenso spurlos aus dem Roman wie Bobby Westerns Katze. Statt dessen reist der Protagonist durch den amerikanischen Süden und trifft eine Reihe schräger Gestalten, mit denen er über die Frauen, die Kennedy-Morde oder moderne Physik diskutiert. Einerseits weiß er locker über Vektorbosonen, die String-Theorie und den „Abelschen Higgs-Mechanismus“ zu parlieren, andererseits schneidet er einem toten Hirsch das Fleisch aus dem Körper und ißt es roh mit Salz und Pfeffer. Was ihn jedoch wirklich beschäftigt, liegt in der Vergangenheit: Es sind die Erinnerungen an die Mutter, die wie ein Schatten durch ihr Leben ging, an den Vater, der sich an der Entwicklung der Atombombe beteiligte, und vor allem an seine tote Schwester, die die Liebe seines Lebens war. 

Diese inszestuöse und unerfüllte Geschwisterliebe bildet den Kern, um den beide Romane kreisen, auch wenn die Geschichte dieser Liebe an keiner Stelle der beiden Bücher je zusammenhängend erzählt wird. Während Alicia bereit ist, sich über die Konventionen hinwegzusetzen und sich umbringt, als sich dies als unmöglich erweist, bleibt ihr Bruder in gesellschaftlichen Tabus gefangen. Cormac McCarthy entfaltet diese Geschichte in einer manchmal derben, manchmal poetischen, immer aber bildhaften Sprache, mit der ihm Erzählpassagen von schmerzhafter Eindringlichkeit gelingen. Den langen Exkurs über das Ertrinken in „Stella Maris“ wird kein Leser so schnell vergessen, ebensowenig die Phantasien über den Atombombenabwurf auf Nagasaki. „Sie sahen Vögel am Abendhimmel in Flammen aufgehen, geräuschlos explodieren und niederfallen wie brennende Partyüberraschungen.“ In einer Rezension der Frankfurter Rundschau hieß es dazu treffend: „Mit diesen beiden Romanen hat Cormac McCarthy sein Vermächtnis formuliert. Er schert sich nicht um literarische Moden, das hat er nie getan. Er bleibt seiner kritischen Sicht auf unsere Spezies treu: ‘Die Zeitalter der Menschen ziehen sich von Grab zu Grab.’ Keiner kann das besser illustrieren als dieser Schriftsteller.“

Trotzdem mutet der Autor dem Leser nicht wenige Sprünge und Brüche zu. Bobby Western wirkt wie ein Zwitter, zusammengesetzt aus den ersten Entwürfen des Manuskriptes, das McCarthy nach eigener Auskunft vor über 20 Jahren schrieb, und den naturwissenschaftlich-mathematischen Interessen der späteren Jahre, die der Hauptfigur aufgesetzt wurden wie ein schlecht sitzender Cowboyhut. Die Schwester Alicia ist ein reiner Gedankenträger, die viel Kluges und Bedenkenwertes zu sagen hat, aber alles andere als eine glaubhaft konzipierte literarische Figur ist. Kursiv gesetzte Einschübe, in denen sich ein Zwerg als Abgesandter einer schizophrenen Anderswelt bemerkbar macht, stehen derart quer zum Text, daß man der Versuchung widerstehen muß, einfach weiterzublättern. 

So ergibt sich am Ende ein zwiespältiges Bild. Noch immer gelingt es McCarthy, vor allem in „Der Passagier“, eine atmosphärische Dichte zu schaffen, in der er praktisch alles erzählen kann, ohne daß ihm der Leser von der Fahne geht. Andererseits werden die Kenner der McCarthyschen Bücher nichts Neues entdecken, aber hier und da den typischen „Drive“, die Geschlossenheit der Form und die gelungenen Charakterzeichnungen vermissen. Manchmal hat man sogar das Gefühl, als würde Cormac McCarthy mit dem vorliegenden Doppelroman seinem abgeschlossenen Werk noch etwas hinterherrufen, was er schon besser und prägnanter gesagt hat. Ob sich der Altmeister mit diesem literarischen Nachschlag – jedenfalls gemessen an dem hohen Niveau und der Homogenität seines bisher erschienenen Werkes – einen Gefallen getan hat, muß deswegen offenbleiben. 

Cormac McCarthy: Der Passagier. Roman. Rowohlt, Hamburg 2022, gebunden, 528 Seiten, 28 Euro

Cormac McCarthy: Stella Maris. Roman. Rowohlt, Hamburg 2022, gebunden, 240 Seiten, 24 Euro