Die Zeit der 1960er Jahre war nicht nur eine des politischen Umbruchs, sondern auch künstlerischer Innovationen. Der nachhaltige künstlerische Wert jener Jahre kann zwar bezweifelt werden, aber die experimentelle Lust ist dennoch bemerkenswert. Sie schuf zwar keine zu vertiefender Betrachtung einladenden Einzelkunstwerke, doch ihre Wirkung entfaltet sich auch heute noch im Dekorativen. „Spiel, Spaß, Spannung“, lautete der spätere Slogan für die bekannten Eier von „Kinder Überraschung“. Er ließe sich problemlos auf die Kunst der 1960er und 1970er Jahre übertragen, denn jene führte auf spielerische Weise bisweilen zu spannenden optischen Eindrücken.
Bis Ende der fünfziger Jahre bestimmte die nicht-gegenständliche Kunst maßgeblich den offiziellen Kunstbetrieb Westdeutschlands. Und zwar sowohl als Abstraktion von Naturerscheinungen wie als pures Spiel mit geometrischen Grundformen. Auf diese Weise setzte sich der westdeutsche Kunstbetrieb bewußt ebenso von der damals omnipräsenten gegenständlichen Kunst des sowjetisch geprägten Ostblocks ab wie von der NS-Vergangenheit. Ja, das figurative Schaffen der NS-Zeit diente den abstrakten Künstlern geradezu als willkommene moralische Begründung ihres Schaffens.
Eine erste Gegenbewegung formierte sich in der Pop Art. Deren bunte, plakative Bilder verarbeiteten Erfahrungen aus der Werbegrafik und den Massenmedien. Häufig kamen dabei die Verfahren des Siebdrucks und der Lithographie zum Einsatz. Namen wie Roy Lichtenstein oder Andy Warhol erlangten weltweite Bekanntheit und dürften von vielen Normalbürgern am ehesten mit der Kunst der sechziger und siebziger Jahre in Verbindung gebracht werden.
Wahrnehmung durch abstrakte Objekte und irritierende Effekte
Die Wuppertaler Ausstellung „ZERO, Pop und Minimal“ präsentiert indes eine deutlich darüber hinausreichende Bandbreite des damaligen Schaffens. Sie zeigt beispielsweise, wie Künstler versuchten, die verfeinerte europäische Malerei wieder zu deren Anfängen zurückzuführen. Nicht mehr Motive, sondern Pigmente, die Leinwand, der Arbeitsprozeß rückten in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Fast monochrome Bilder, die nur für Farbton-Nuancen sensibilisierten, mochten eine meditative Wirkung angesichts der Hektik der modernen Welt entfalten. Für den gemeinen Betrachter wirken solche Künstler-Experimente aber heute rasch langweilig und uninteressant. Andere entwickelten nur die Ideen des Kubismus weiter, kratzen an vielfach überklebten Plakatwänden herum oder verwischten Fotovorlagen aus Zeitungen und Illustrierten.
Auch der Anspruch der „Kunst für alle!“ zeigt eine der Verirrungen jener Zeit. Kunst war auch schon lange zuvor auf den Straßen zu sehen. Und man brauchte sie einst auch gar nicht „direkt zu den Menschen zu holen“, wie es in den siebziger Jahren versucht wurde. Alte Fotoaufnahmen von Denkmals- oder Brunneneinweihungen der Kaiserzeit zeigen, daß die Massen einst von ganz alleine zur Kunst geströmt sind, wenn sie sich mit dieser identifizieren konnten.
Die Begeisterung der Museumsbesucher dürfte folglich vor allem durch zahlreiche Mitmach-Kunstwerke entfacht werden. Meist handelt es sich dabei um Exponate der Optical Art, die sich mit der Wirkung von Licht und Bewegung beschäftigte. Jene hatte sich aus der „Konkreten Kunst“ entwickelt, bei der das Quadrat als Ausgangspunkt ihrer Kompositionen diente. Nun hat die Beschäftigung mit Licht die Malerei und Bildhauerei seit jeher eingenommen, ist also keinesfalls neu. Op-Art allerdings versuchte, den Phänomenen unserer optischen Wahrnehmung durch abstrakte Objekte und irritierende Effekte nahe zu kommen. Dabei spielte das Partizipatorische und Spielerische eine große Rolle. Es entstanden Werke aus Spiegeln, dünnen Pendelstäben, Nägeln oder Bewegungsmaschinen. Jene entfalten ihre Wirkung allerdings oft erst im Zusammenspiel mit dem umgebenden Raum und anderen Objekten.
Noch deutlicher wurde der Bezug zur Umgebung bei expansiven Kunstformen wie dem Happening oder der Land Art. Nicht mehr das Atelier diente als deren Entstehungsstätte, sondern der öffentliche Raum der Straße oder die Natur. Auch diese Ansätze waren gar nicht so neu, wie sie manche heute zu suggerieren versuchen. Bereits die antiken Amphitheater können als Open-Air-Happening interpretiert werden. Und diese Linie läßt sich bis zu den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts ziehen. Denn was waren die NS-Reichsparteitage in Nürnberg anderes als großformatig inszenierte Happenings? „Land Art“ ist wiederum spätestens seit den barocken Gartenanlagen ein fester Bestandteil europäischer Kultur. Der Unterschied zu den siebziger Jahren liegt indes darin, daß die historischen Erzeugnisse oft mehr zu überzeugen vermögen als ihre bisweilen disharmonisch wirkenden Nachfolger.
Da die Epoche der sechziger und siebziger Jahre zu großen Teilen mit dem sogenannten „Roten Jahrzehnt“ zusammenfiel, begegnet einem auch die Phraseologie jener Zeit. Zur Koketterie mit der auf marxistischem Gedankengut basierenden „Gesellschaftskritik“ gehören nicht nur Warhols bekannte Mao-Porträtreihe, sondern auch die Antikunst der „Fluxus“-Bewegung. Diese wollte Symbole bürgerlicher Kultur und Bildung degradieren, unter anderem mittels Durchlöcherung von Notenblättern oder Malträtieren eines Klaviers als Symbol des Bildungsbürgertums. Die degenerierten Kinder jenes damals vorgedachten Geistes sind es, die heute Bismarck-Denkmäler umkippen wollen oder Gemälde in Museen mit Tomatensoße bewerfen.
Die Ausstellung „ZERO, Pop und Minimal – Die 1960er und 1970er Jahre“ ist bis zum 16. Juli 2023 im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, Wuppertal, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 0202/563-62 31