© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/23 / 31. März 2023

Selbstermächtigte Unterwerfung
Bauer sucht Frau: Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals Lyrische Komödie „Arabella“ an der Deutschen Oper Berlin
Jens Knorr

Der späte Richard Strauss ist was für Spätzeiten. Seinen Partituren ist ein Nichtmehr eingeschrieben, ohne daß ein Noch-nicht aus ihnen gelesen werden könnte. „Arabella“ ist die letzte Zusammenarbeit mit seinem Librettisten, dem Dichter Hugo von Hofmannsthal, der 1929 über die Fertigstellung des Librettos gestorben war. Man merkt es ihm an.

Im Wien des Jahres 1860 sucht der verarmte Graf Waldner seine schöne Erstgeborene Arabella reich zu verheiraten. Er ist der Spielsucht verfallen, seine Frau dem Okkultismus. Die Rechnung des Stadthotels, in dem sie logieren, können sie längst nicht mehr bezahlen, wie alle anderen Rechnungen auch. Da die finanziellen Mittel nicht hinreichen, auch die zweite Tochter, Zdenka, standesgemäß auszustatten, muß sie als Bruder der ersten ausgegeben werden. Die erste nun lehnt alle Freier ab, sie wartet auf den „Richtigen“. Der tritt als Neffe und Erbe eines alten Militärkameraden Graf Waldners, des Gutsbesitzers Mandryka aus Slawonien, in das Leben der Familie und den ersten Aufzug ein, wird im zweiten als der Richtige erkannt und benannt und erhält im dritten den letztgültigen Zuschlag.

Zeitverlorene Momente

machen die Popularität aus

Der Kitt, der das Ganze zusammenhält, ist Operette und Boulevard entlehnt: Zdenka liebt den Jägeroffizier Matteo, der nur Augen für Arabella hat. Als sein Wahlbruder Zdenko nährt sie Matteos Illusionen über die Zuneigung Arabellas, organisiert eine Liebesnacht, während der sie ihn als Arabella beglückt und sich von ihm beglücken läßt. Über die vermeintliche Untreue Arabellas empört, provoziert Mandryka den Eklat. Zdenko enthüllt sich als Zdenka, Arabella verzeiht Mandryka, Matteo findet seine wahre Liebe, die Paare finden zusammen, die Waldners sind saniert und die Gaffer können schlafen gehen: „Jetzt passiert nichts mehr.“

Doch, musikalisch passiert schon einiges. Nicht nur in der großen Schlußszene zwischen Mandryka und Arabella, sondern immer wieder tauchen aus der beunruhigend zersprengten Musik auf ein unfertiges Libretto Inseln vergangenen diatonischen Glücks auf, wo sich die Stimmen der Hauptfiguren entfalten können. Es sind diese Monologe und Duette, Hausnummern für Schallplatten-Querschnitte, welche die ungebremste Popularität der Lyrischen Komödie seit ihrer Uraufführung an der Dresdner Semperoper des Jahres1933 ausmachen.

Sir Donald Runnicles am Pult des Orchesters der Deutschen Oper scheint weniger am Ausloten solcher zeitverlorener Momente denn mehr an dichtem musikalischem Fluß interessiert, über den hinweg sich die Singstimmen Gehör zu schaffen versuchen, was nicht ohne permanentes Forcieren abgeht. Das hohe Paar, Sara Jakubiak (Arabella), in der letzten Probenwoche eingesprungen, und Russell Braun (Mandryka), der die Premiere trotz starker Indisposition sang, kam damit weniger souverän zurecht denn das niedere Paar, Elena Tsallagova (Zdenka) und Robert Watson (Matteo). Insbesondere Elena Tsagallova avancierte musikalisch zur zentralen Figur der Inszenierung, szenisch sollte sie das sowieso sein. Und eigentlich paßte auch Sir Runnicles’ gleichsam autoritäres Dirigat, ob beabsichtigt oder nicht, auf die Inszenierungsidee von Regisseur Tobias Kratzer.

Wer alles frei wählen kann, hat gar keine freie Wahl

Den ersten der klassischen Schauplätze der Wiener Operette – Salon in einem Stadthotel, Vorraum zu einem öffentlichen Ballsaal und schließlich Stiegenhaus des Hotels – rufen Bühnen- und Kostümbildner (Rainer Sellmaier, Clara Luise Hertel) parodistisch detailverliebt auf. Die Bühne ist zweigeteilt, mittels Handkamera werden Details des Geschehens linkerseits in Echtzeit aufgenommen und auf eine Leinwand rechterseits projiziert. Sie rückt  tote Dinge ins Bild, Spielkarten, Blumenstrauß, Geldscheine und immer wieder Geldscheine, die allesamt als mit den Figuren im Verhältnis stehende selbständige Gestalten erscheinen, die jenen den Grad ihrer Lebendigkeit überhaupt erst zuweisen. Doch muß die Kamera immer auch und zunehmend für nichtgefundene theatrale Lösungen einspringen. Was Arrangement und Bühnenhandeln nicht leisten, das sollen Nahaufnahmen ersetzen sowie dazu erfundene Schauplätze, Schlafzimmer der Schwestern und Hotelrezeption, Erzähltes illustrieren.

Im zweiten Aufzug wechseln hinter drei Doppeltüren zu einem Ballsaal die Zeiten, Veranstaltungen und Tänze (Choreographie Jeroen Verbruggen) und spülen Haupt- und Nebenfiguren im Zehnjahrestakt mit jeder neuen Modewelle in immer neuer Kostümierung auf die Vorbühne. Entgegen der Behauptung der Regie, eine Entwicklung Arabellas durch die Zeiten zu zeigen, einen Prozeß der Emanzipation und Selbstermächtigung, ist eigentlich nur zu sehen, wie sich Arabella mit jeder neuen Zeitenwende einpaßt. Nicht sie bestimmt das wechselnde Programm des Ballsaals, sondern sie wird von ihm bestimmt.

Durfte der Zuschauer im zweiten Aufzug schon die Übertitel nie aus den Augen lassen, um zu verstehen, was die Figuren da eigentlich miteinander auszuhandeln suchen, so weiß die Regie im dritten Aufzug kaum mehr, von einigen mehr oder weniger szenischen Kalauern abgesehen, Text, Musik und Szene in ein lustvoll produktives Verhältnis zu bringen. Sie will in der Vorlage ein utopisches Moment ausgemacht haben, führt jedoch vielmehr nur ihre eigene, durch den ziemlich porösen „Zeittunnel“ des zweiten Aufzuges beförderte, Erzählung zu Ende – ein legitimes Verfahren, das jedoch dort streitig wird, wo es die möglichen Erzählungen des Stücks liquidiert. Der Schauplatz wird vollends zum Allgemeinplatz.

Auf leerer Bühne erwählt Arabella selbstbestimmt den ihr vorbestimmten „Richtigen“, Zdenka das ihr aufgezwungene Geschlecht als ihr natürliches, ihre „zweite Natur“ zu ihrer ersten, Matteo seine Zdenka als Zdenko, und Familie Waldner fügt sich in die unvermeidliche Regenbogenfamilie, zu welcher diverse Alltags-Choristen, die auf der rechten Bühnenseite vor sich hin schmusen, den Daumen heben.

Wer alles frei wählen kann, der hat gar keine freie Wahl. Postmoderne Identitätspolitik, die hier dem Publikum als Diversity verkauft wird, läuft lediglich auf unterschiedslose Teilhabe am Verwertungs- und Entwertungsprozeß des Kapitals hinaus, am Abwägen und Markten und Geizen, dem Arabella und Zdenka doch drei Aufzüge lang entkommen wollten. Wer das Geld besiegt vermeint, den hat das Geld besiegt.

Die Figuren wissen nichts davon, Text und Musik schon einiges, wovon die Inszenierung zu wenig wissen will. Sie ließ uns erfahren, wie die Frauen die Zeitläufte nehmen und sich in den Zeitläuften nehmen lassen, nicht aber, wie sie sind und werden. Strauss’ und Hofmannsthals „Arabella“ ist eine Oper für Spätzeiten.

Die nächsten Vorstellungen von „Arabella“ an der Deutschen Oper Berlin, Bismarckstraße 35, finden am 30. März, 1. und 6. April jeweils um 19.30 Uhr statt. Kartentelefon: 030 / 343 84 343

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