Wer bestimmte Worte tabuisieren und die Sprache insgesamt zensieren will, muß früh anfangen. Dieser Devise folgt die Bewegung, die in Kinder- und Jugendbüchern politisch unkorrekte Begriffe ausmerzen will.
In Deutschland traf es schon vor zehn Jahren mehrere Kinderklassiker von Otfried Preußler und Astrid Lindgren. Der Thienemann-Verlag verbannte aus Preußlers „Kleine Hexe“ in der Fastnachtsfeierszene, wo sich Kinder exotisch verkleiden, die Worte Negerlein, Türken und Chinesen – dies sei „diskriminierende Sprache“. Der Oetinger-Verlag strich in „Pippi Langstrumpf“ den Negerkönig und machte einen Südseekönig daraus, auch der Begriff Zigeuner verschwand aus dem Buch. In Schweden bereinigte der Lindgren-Verlag die Bücher ebenfalls. Es rief dann aber doch etwas Verwunderung hervor, daß eine lokale öffentliche Bibliothek nahe Stockholm alte Ausgaben von Pippi Langstrumpf mit der „rassistischen Sprache“ tatsächlich verbrennen ließ. Jüngst meldet die Londoner Zeitung The Telegraph, wie in öffentlichen englischen Bibliotheken die unzensierten Werke von Enid Blyton nur noch als „Bückware“, quasi unter der Ladentheke, zu finden sind. Auch Blyton steht heute am Pranger, weil ihr sexistische und xenophobe Ansichten vorgeworfen werden.
In den USA ist das Bereinigen älterer Literatur schon seit vielen Jahren im Gange. Davon kann sich jeder überzeugen, der ältere Ausgaben von Mark Twains Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ (1885) mit neuen vergleicht. Das N-Wort, das Twain freigiebig nutzte, weil es zur damaligen Sprache gehörte und auch Huckleberrys ambivalente Haltung in der Sklaverei-Frage unterstreicht, ist heute getilgt. An Hugh Loftings „Die Geschichte von Doktor Dolittle“ (1920) legte der Sohn des Autos Hand an und schrieb ganze Passagen mit „kolonialistischen“ Klischees um.
Allein der Begriff „weiß“ ist schon höchst verdächtig.
Groß war der Aufschrei vor einem Monat über die sehr weit gehende „Bereinigung“ der Bücher von Roald Dahl durch den zum Penguin-Konzern gehörenden britischen Verlag Puffin Books, der gleich an Hunderten Stellen mit politisch korrekter Zensur eingriff (JF 9/23). Die Änderungen, mit Zustimmung der Erbengemeinschaft, folgten zum Teil den absurdesten Vorgaben einer „sensiblen Sprache“, die sogar den Begriff „fett“ – wegen „Bodyshaming“! –aus dem Wortschatz verbieten will. Augustus Gloop in „Charlie und die Schokoladenfabrik“ ist nicht mehr „enormously fat“, sondern nur noch „enormous“. In „The Twits“ (dt. „Die Zwicks stehen kopf“) ist Mrs. Twits nicht mehr „ugly and beastly“, sondern nur noch beastly. Häßlich gilt als zu beleidigend. Zudem sind in „The Witches“ (dt. „Hexen hexen“) eine Supermarktkassiererin und eine Sekretärin flugs in eine Wissenschaftlerin und eine Geschäftsfrau umgemodelt worden.
Die drastische Sprache des 1990 verstorbenen Dahl wird an vielen Stellen abgeschwächt. Zudem werden gender-neutrale Begriffe eingeführt, aus Männern und Frauen wurden „people“; das Wort „female“ verschwand an anderer Stelle. Kreischende Menschen werden nicht mehr weiß im Gesicht, nur noch „blaß“. Allein der Begriff „weiß“ ist schon höchst verdächtig. Nicht nur einzelne Wörter, sondern ganze Sätze wurden geändert und sogar neue Sätze eingefügt. Neunmalklug fügt der Verlag in „The Witches“, die ihre kahlen Köpfe mit Perücken bedecken, eine Belehrung ein, daß es „viele Gründe gibt, warum Frauen Perücken tragen mögen, und daran ist sicherlich nichts falsch“.
Wohin soll diese politisch-korrekte Bereinigung von Literatur noch führen? Das Umschreiben der Bücher erinnert an George Orwells Dystopie. Salman Rushdie empörte sich über eine „absurde Zensur“. Zwar habe ihn Dahl nie unterstützt, schrieb der Autor der „Satanischen Verse“, und Dahl sei eine „bigotte“ Person gewesen“ (wohl eine Anspielung auf Dahls Antisemitismus), doch das Umschreiben der Bücher findet Rushdie falsch. Die Vorsitzende des amerikanischen PEN-Schriftstellerverbands Suzanne Nossel assistierte. Wer einmal anfange, klassische Bücher umzuschreiben, kenne bald keine Grenze mehr. Erst würden nur Wörter ausgetauscht, bald ganze Gedanken und Passagen.
Widerspruch von Experten kommt eher selten
Es gab dann so viele negative Reaktionen, daß Puffin zurückruderte und künftig die Originalversion der Bücher neben den zensierten Neuversionen weiter vertreiben wird. Ein Sieg? Ein kleiner Sieg. Nur eine Schlacht ist gewonnen. Der Krieg gegen Bücher oder Worte, die dem heutigen politisch-korrekten Zeitgeist unsensibel erscheinen, geht wohl weiter.
Wer beispielsweise die neue Knesebeck-Jugendausgabe von „Oliver Twist“ kauft, wird feststellen, daß darin jede Spur getilgt ist, daß Charles Dickens den Bösewicht Fagin im Original zigfach als Juden bezeichnete. Man mag das heute irritierend finden, aber wäre es nicht besser, dies in einem Vor- oder Nachwort zu thematisieren, als das Original zu verfälschen?
Kinderbücher sind keineswegs ein unpolitisches Feld. Im Gegenteil, transportiert die heutige Jugendliteratur nicht ebenfalls jede Menge Klischees, nur eben neue, politisch korrekte? Das zeigt auch die Bewegung, die krampfhaft LGBT-Genderideologie schon in Kleinkind-Bücher hineindrücken möchte, in denen der Prinz plötzlich eine Prinzessin wird oder Transmänner Babys kriegen. Kinder- und Jugendbücher haben zu allen Zeiten gesellschaftliche Werte transportiert. Sie formen das Weltbild der jungen Leser. Karl May steht deshalb am Pranger, weil sein Orient- und Amerikabild als klischeehaft und altmodisch verdammt wird.
Widerspruch von Experten gegen das Umschreiben kommt eher selten. Eine der wenigen Gegenstimmen kommt von dem Kunstpädagogik-Professor Andreas Brenne von der Uni Potsdam. Der Karl-May-Experte forderte vorige Woche in der Neuen Osnabrücker Zeitung, Kinder- und Jugendliteratur nicht vorschnell zu glätten: „Meine pädagogische Haltung ist, Kinder und Jugendliche nicht vor inkriminierten Texten oder Wörtern zu bewahren. Die Welt ist eben zum Teil auch schrecklich und verstörend. Wir müssen Räume schaffen, in denen über solche Verstörungen gesprochen werden kann.“ Dies geschehe nicht dadurch, „daß man nur ideale Zustände erzeugt“, so Brenne. „Literatur hat auch etwas Wildes. Das soll man Kindern nicht vorenthalten.“
Die Zensoren spüren, daß alte Literatur auf viele doch noch große Faszination ausübt, daher wollen sie sie entschärfen, umschreiben, verfälschen. Wer PC-bereinigte Literatur vermeiden will, kauft wohl besser antiquarische Ausgaben.