© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 14/23 / 31. März 2023

Herrschaft des Schwarms
Literatur: Juli Zeh und Simon Urban bewegen sich in ihrem Briefroman „Zwischen Welten“
Regina Bärthel

Mit ihren oft provokanten Themen hält Juli Zeh, Autorin des höchst erfolgreichen Nachwenderomans „Unter Leuten“, ihre Leserschaft in Atem: Da können sich Selbstmordwillige als politische Attentäter verdingen („Leere Herzen“), lange vor Corona wird eine Gesundheitsdiktatur beschrieben („Corpus Delicti“) oder das Menschliche in einem Dorfnazi entdeckt („Unter Menschen“). All diese Romane gaben Gelegenheit zu widerstreitender Kritik. Nun aber scheint Zeh gemeinsam mit ihrem Co-Autor Simon Urban in ein Wespennest gestochen zu haben: „Zwischen Welten“ erregt die Twittergemeinde und erzürnt einen großen Teil des Feuilletons.

Die im aktuellen Roman behandelten Welten sind einerseits die von Theresa Kallis, Landwirtin in der brandenburgischen Provinz, sowie des Journalisten Stefan Jordan, Feuilletonchef des Boten, einer namhaften Zeitung im urbanen Medienzentrum Hamburg. Im gemeinsamen Literaturstudium waren sie einst ein Herz und eine Seele, diskutierten, erdachten Pläne zur Weltverbesserung und lebten in einem gemeinsamen Universum – bis sich ihre Wege plötzlich trennten und der Kontakt vollständig abbrach. Nun, 20 Jahre später, treffen sich die Mittvierziger durch Zufall wieder und entdecken, daß ihre heutigen Lebenswelten kaum unterschiedlicher sein könnten: Hier der woke, selbst im Privaten mit Gendersternchen operierende und auch sonst dem aktivistischen Journalismus nicht abgeneigte Großstadtsingle, dort die um die Existenz ihres Hofes kämpfende Bäuerin mit Mann und zwei Söhnen. Via E-Mail und Textnachrichten entspinnt sich ein Schlagabtausch der widerstreitenden Meinungen über „Ukraine, Gender-Problematik, Klima, Rassismus“ – wenngleich Stefan sich hier als Überlegenen sieht, fehle der provinziell gewordenen Theresa doch der geistige Horizont, in dem er sich qua Beruf allwissend bewege.

Doch trotz aller sich offenbarenden Differenzen hält der Meinungsaustausch über neun Monate an. Einem Briefroman entsprechend werden die Ereignisse innerhalb der so unterschiedlichen Welten aus der je eigenen Perspektive der Figuren beschrieben. Auch ohne vermittelnde Erzählinstanz erkennt der Leser mit Leichtigkeit die blinden Flecken in deren subjektiven Darstellungen – und die sind auf beiden Seiten zahlreich.

Theresa Kallis erläutert dem Großstadtmenschen, wie verfehlte EU-Subventionen, eine überbordende Bürokratie, der Landkauf durch internationale Investoren und eine Politik, die Bauern „mit Öko-Ideen und Energiewende hin und her schubst“ und sie an den Rand der Existenz bis hin zum Exodus bringen. Als der Landwirtschaftsminister auch konstruktive Vorschläge der Bauern nicht anhören will, schlägt Theresas Verzweiflung in Wut um: Gemeinsam mit – laut Stefan rechtsradikalen – Ökoaktivisten führt sie eine mehr als fragwürdige Protestaktion durch, denn die mit Gülle gefüllten Billigkonserven, die die Gruppe in den Handel schmuggelt, schaden weder den Konzernen, noch landen sie in den Küchen der politisch Verantwortlichen. Nicht zuletzt setzt Theresa durch ihren zunehmend verbissener werdenden Kampf den Zusammenhalt ihrer Familie aufs Spiel.

Derweil freut sich Stefan Jordan daran, seine Zeitung gemeinsam mit Vertretern der „aktivistischen“ Jugend in die neue Welt des Genderns, der Critical Whiteness und des Klimaaktivismus zu führen. Seine Freude bleibt jedoch nicht ungetrübt: Als die Existenz seines Chefredakteurs und Mentors samt dessen Familie wegen eines – zugegebenermaßen plumpen – Scherzes durch einen digitalen Shitstorm durch eben jene Jugend zerstört wird, hinterfragt er immerhin seinen eigenen Standpunkt zwischen Kampagnenjournalismus und Presseethos. Eine kurzfristige Katharsis, spülen ihn die Ereignisse doch als Teil einer antagonistischen Doppelspitze, bei der ihm trotz allen woken Bemühens der Part des alten weißen Mannes zugedacht ist, auf den Chefsessel des nun in Bot*in umbe-nannten Blattes. Die ursächlichen Intrigen hinter all diesen Vorgängen erahnt Stefan zwar, verdrängt seine Erkenntnis aber zugunsten der „richtigen“ moralischen Haltung, die selbstredend auch seiner Karriere zuträglich ist. 

Interessant ist jedoch, daß sowohl Stefan als auch Theresa sich vom „politischen“ Furor der Jüngeren beeinflussen lassen, deren von keinem abwägenden Zweifel gebremsten Aktivismus sie letztendlich bewundern. Im Gegensatz zu Theresa sinniert Stefan immerhin über den heutigen „Diskurs“ der Jüngeren: „Sie lehnen den Individualismus genauso ab wie den Universalismus, und damit alles, was die Grundlage einer liberalen Gesellschaftsordnung bildet. Für sie gibt es nur noch Gruppenzugehörigkeiten.“ Wenn der Diskurs aber zugrunde gehe, reiße er die Demokratie mit sich – der „Herrscher der Zukunft“ sei dann der Schwarm, der jede kritische Gegenposition im Keim ersticke. Daß aber das – im wahrsten Wortsinn – Heranziehen der Jugend eine Technik zahlreicher Systemwechsel innerhalb der neueren Geschichte war und ist, bedenkt er nicht. Denn das hieße, sich als erfahreneres Gesellschaftsmitglied der herrschenden Agenda entgegenzustellen – und die eigene Existenz zu gefährden. Theresa hingegen macht es sich einfach und verläßt schlichtweg das System: „Es ist nicht möglich, die Maschine von innen umzubauen. Wer dabeibleibt, macht sich schuldig.“

So driften die Welten immer weiter auseinander zwischen Anywheres und Somewheres, Großstadt und Provinz, aber auch zwischen den Produzenten von Information und Meinung sowie jenen von Nahrung und Gütern. „Zwischen Welten“ handelt von zwei Menschen, die genau das erfahren: Sie geraten zwischen zwei Pole, deren magnetischen Anziehungskräften schwer zu widerstehen ist, die den Bereich des Dazwischen, der abwägenden Vernunft und pragmatischen Analyse, mithin einer konstruktiven Liberalität, unmöglich machen. 

Das alles ist ganz sicher nicht neu und wird seit vielen Jahren diskutiert. Dennoch gelingt Zeh und Urban mit „Zwischen Welten“ eine oft vergnügliche, bisweilen sogar entlarvende Zusammenfassung der aktuellen Debattenkultur, die allzu schnell in Kulturkampf ausartet. Von entlarvender Ironie ist dabei im übrigen auch, daß eben diese im Buch beschriebene moralische Hybris und mit ihr einhergehende Empörungswellen nun auf die Autoren zurückfluten. Grund hierfür ist ein Interview der Autoren mit der Neuen Zürcher Zeitung, bei dem wiederum die Themen Migration, Corona-Maßnahmen und Ukraine-Krieg thematisiert wurden. Zeh, die zu allen diesen Fragen eine zumindest abwägende Haltung einnimmt, triggerte genau damit das Erregungspotential des „digitalen Diskurses“ innerhalb der sozialen Medien: Flugs wurde ihr „Radikalisierung“, „rassistisches Gerede“ und „Verharmlosung des Rechtsextremismus“ vorgeworfen. Einen sinnfälligeren Beweis für die Realitätsnähe des Buches könnte man sich kaum denken.

Die Autoren Zeh und Urban erheben keinen moralischen Zeigefinger, beziehen für keine der beiden Figuren Position. Man könnte dies zum Anlaß nehmen, wieder einmal zwischen den Welten zu lesen und zu denken. Denn da gibt es einen Graben, der viel Raum für berechtigten Zweifel offenlegt. Für beide Seiten.

Juli Zeh, Simon Urban: Zwischen Welten. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2023, gebunden, 448 Seiten, 24 Euro