Die Bande trifft sich vor der Marktpassage. Bande? Die vier Mädchen müssen lachen. „Ja, wir gehören alle dazu“, sagen sie übereinstimmend. Die Passage ist einer ihrer Treffpunkte. „Die anderen befinden sich am Bahnhof, beim Jugendzentrum und hinter dem Rathaus“, verrät eine von ihnen. Und klärt auf: „Man kennt sich, man sieht sich, man trifft sich.“ Das sei alles, was es in Sachen Mädchenbanden in Heide, einer Stadt im schleswig-holsteinischen Landkreis Dithmarschen unweit der Nordseeküste auf sich habe.
Wäre da nicht dieses Video, das in den sozialen Medien unzählige Male geteilt wurde. Ein Video, dessen menschenverachtender Inhalt der Kleinstadt zu unrühmlicher Bekanntheit verhalf. Es zeigt, wie ein 13 Jahre altes Mädchen auf grausame und entwürdigende Weise geschlagen, gedemütigt und gequält wird.
Der Tatort liegt in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes. Ein kleiner Gehweg, der parallel zu den Gleisen verläuft. Das Jugendzentrum ist von hier aus nur wenige hundert Meter entfernt. Hier, in der Nähe der dort befindlichen Müllcontainer, war die grausame Tat geschehen, die deutschlandweit für Entsetzen gesorgt hatte und noch immer Stadtgespräch ist.
„Ja, wir kennen sie“, sagt eine aus der vermeintlichen „Bande“. Alle aus der Gruppe an der Marktpassage kennen J. (Die Namen des Opfers und der mutmaßlichen Täterinnen sind der JUNGEN FREIHEIT bekannt). Mit den Tatverdächtigen sind sie sogar befreundet. Mädchen im Alter zwischen 13 und 14 Jahren. Zwei Deutsche und ein Mädchen mit nordafrikanischem Migrationshintergrund hätten zugeschlagen. Letztere habe dem Opfer J. die Nase gebrochen. „Lt. hatte ihr eine von hinten geklatscht, so daß sie es nicht kommen sah. So etwas geht gar nicht“, erzählt eine aus der Marktpassagengruppe.
Die schreckliche Tat hat eine Vorgeschichte, erzählt ein Mädchen
„Sie hatten J. Kaugummi in die Haare geschmiert, ihren Kopf mit Cola übergossen, die Haare angezündet, Zigarettenkippen in ihrem Gesicht ausgedrückt und ihr den BH ausgezogen“, ergänzt ihre Freundin. Was bringt Jugendliche dazu, etwas Derartiges einem gleichaltrigen Menschen anzutun? „Wenn es bei Lo. um ihre Familie geht, dann wird sie zum Tier, dann tickt sie total aus“, meint eines der Mädchen. Ein Dutzend weitere Freundinnen standen dabei, als E. das Opfer festhielt und Lo. und Lt. es peinigten. Sie filmten die Taten, schauten zu. „Das hat die beiden dann nur noch mehr gepusht.“
Im Verlauf des Gesprächs mit den vier Jugendlichen stellt sich heraus: Angeblich gibt es eine Geschichte hinter der Tat. Eine, die zumindest erklären könnte, warum die Gruppe aus dem Video so heftig reagierte. „J. hatte dem kleinen Bruder von Lo. Zigaretten und Cannabis gegeben“, behauptet eines der jungen Mädchen. Der Junge sei erst acht Jahre alt.
Es sei beim Jugendzentrum am Bahnhof geschehen. Am Fahrradständer des Gebäudes würde sich die Raucherecke befinden. Zigaretten und Cannabis würden dort regelmäßig auch von Zwölf-bis Dreizehnjährigen konsumiert. „Viele Eltern erlauben ihren Kindern in dem Alter schon zu rauchen, meine auch“, sagt die Jugendliche.
Nach Darstellung der Mädchen soll J. den achtjährigen Bruder von Lo. dort gezwungen haben, „das Zeug“ zu nehmen. „Wenn jemand das mit meinem Bruder machen würde, ich hätte ihm die Kippe nicht im Gesicht ausgedrückt, ich hätte sie ihm bis in den Rachen geschoben“, meint eines der Mädchen wütend.
Ihr Freund beruhigt die aufgebrachte Jugendliche, legt schützend seinen Arm um sie. Es ist Samstag abend in Heide. Am Nachmittag hatte es eine Demonstration des Motorradclubs Biker SH zur Solidarität mit J. gegeben. Die Presse war da, Heides Bürgermeister Oliver Schmidt-Gutzat (SPD) schloß sich der Demonstration an, gab Interviews, forderte mehr Präsenz der Polizei.
Jetzt wird es dunkel auf dem Heider Südermarktplatz. Biker und Bürgermeister sind längst wieder weg. Die letzten Geschäfte schließen. Die wenigen verbliebenen Kunden verlassen mit ihren gefüllten Einkaufstaschen den Platz, der sich zunehmend mit einer neuen Klientel füllt. Verschiedenste Jugendgruppen mit Migrationshintergrund, zumeist aus dem vorderasiatischen und nordafrikanischen Raum. Die Mädchen kennen viele von ihnen, können jede Menge Geschichten über sie erzählen. Sie nennen sie despektierlich „Die Kanaken“, obwohl sie mit vielen von ihnen befreundet sind. Sie berichten von Schlägereien, Gewalt. Manche der jugendlichen Migrantengruppen würden als ihre Beschützer fungieren. „Shaheed (Name geändert) und seine Leute sind okay“, sagt eines der Mädchen. „Wenn einer kommt und uns hier blöd anmacht, sind die in zwei Minuten mit ihrer Gang da.“
Es ist der Alltag, der jetzt wieder in der Heider Marktpassage Einzug hält. Die Appelle und schönen Worte vom Nachmittag sind verklungen, wirken nur noch wie Schall und Rauch in der kaltwindigen Abendluft. Von der geforderten verstärkten Polizeipräsenz ist auf dem Platz nichts zu sehen. Dabei befindet sich die Wache keine hundert Meter gegenüber des Südermarktes. In dem Gebäude brennt nicht mal Licht. Dunkel und verlassen reiht es sich in die Tristesse des zunehmend verwaisten Marktplatzes ein, der sich im Verlauf der Jahre zu einem Brennpunkt im Ort entwickelt hat.
Immer wieder kam es zu Schlägereien, zumeist mit und unter Migranten. Vor einem Jahr wollte die Stadt das Problem in den Griff bekommen. Ein runder Tisch wurde gebildet. Geändert hat das nichts. Im Gegenteil: Letztes Jahr habe der Bürgermeister verkündet, die Überwachungskameras in der Stadt zu entfernen. Angeblich aus Kostengründen. Die Jugendlichen können das nicht nachvollziehen. „Die hätten so manchen Gewalttäter zurückgehalten“, sind sie überzeugt.
„Es reden jetzt alle nur über das Video, aber niemand über die Probleme, die dahinterstehen“, meint der Freund des einen Mädchens. Über die Gewalt, die Drohungen, das Mobbing in den sozialen Medien. „Kaum jemand berichtete, als Justin letztes Jahr hier nach einer Schlägerei starb“, beklagt ein anderes Mädchen. Justin sei ihr Freund gewesen. Das Mädchen kann nicht mehr weitersprechen, bricht in Tränen aus.
Es sei im Mai vorigen Jahres geschehen. In der Marktpassage war es wieder einmal zu einer Prügelei zwischen zwei verschiedenen Migrantengruppen gekommen. „Justin war dazwischengegangen und wollte schlichten“, erzählen sie. In dem entstandenen Handgemenge sei er von einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes zu Boden geschlagen worden. „Im Krankenhaus mußte seine Schädeldecke geöffnet werden. Sie konnten ihn nicht mehr retten.“ Erneut weinend wendet sich das Mädchen ab.
Während ihre Freundin sie in den Arm nimmt und tröstet, zeigt ein weiteres Mädchen auf dem Handy abfotografierte Gesprächsauszüge von TikTok-Unterhaltungen. „Weil wir mit den Täterinnen befreundet sind, werden wir im Internet jetzt auch von allen möglichen Leuten bedroht und da mit reingezogen. Wir sollen den Kontakt zu Lo., Lt. und E. abbrechen, ansonsten würde man uns töten“, schildert sie.
„Du wirst nicht rausgehalten. Entweder du brichst Kontakt ab oder du kannst dich auch töten“, lautet etwa eine dieser Drohungen. „Wir werden euch schon zum Selbstmord bringen oder euch töten“ oder „Kannst ruhig blocken oder ignorieren, aber das hilft auch nicht, ich will euch tot sehen und eure Familie auch“, lauten die Drohungen. Auch die Täterinnen hätten Morddrohungen erhalten.
„Es wurde daher vereinbart, daß wir keine Namen nennen“, sagt das Mädchen. „Es“, das sind Polizei, Lehrer, und Jugendbetreuer, die die Jugendlichen dazu aufgerufen hätten, zu schweigen. Ein Umstand, der Carsten Stahl dazu bringt, sich regelrecht in Rage zu reden.
„Ihr müßt euch verbinden und nicht gegenseitig bekämpfen“
Am Sonntag nachmittag steht er auf einer Bühne mitten auf dem Südermarktplatz, ein Mikrophon in der einen, ein Mobiltelefon in der anderen Hand. Um ihn herum haben sich laut Polizeiangaben mehr als tausend Menschen zu einer Mahnwache versammelt. Stahl, ein ehemaliger Personenschützer, ist Gewaltpräventionsberater, setzt sich für den Kinderschutz und gegen Mobbing ein. Er zeigt auf das Handy. „Sie haben euren Kindern eine Waffe gegeben. Diese Waffe heißt TikTok, Facebook oder WhatsApp“, ruft er laut ins Mikro. Bei ihm die Mutter des Opfers, die ihn um Hilfe gebeten habe, um etwas gegen das Mobbing ihrer Tochter zu unternehmen.
„Ich möchte nicht, daß es eine Luise in Heide gibt. Aber wenn wir weiter totschweigen, wegsehen und so etwas zulassen, wird so etwas immer und immer wieder passieren“, warnt Stahl. „Wir haben uns inzwischen mit zwei der Täterinnen ausgesprochen“, erzählt die Mutter von J. der jungen freiheit. Körperlich gehe es ihrer Tochter inzwischen wieder besser. „Aber seelisch werden die Taten noch lange an ihr nagen.“
Schon vor der Tat habe sie unter „kognitiven Störungen“ gelitten. Sie brauche jetzt „viel Liebe und Zuwendung von uns“. Es sei gut, daß die Öffentlichkeit „das alles hier mal mitbekommt.“ Aber: „Uns geht es nicht darum, die Täterinnen jetzt an den Pranger zu stellen. Uns geht es darum, auf das Problem Mobbing aufmerksam zu machen.“
Wie groß der Bedarf dafür ist, wird bei der Mahnwache deutlich. Erschütternde Szenen spielen sich ab, als Jugendliche dort unter Tränen von ihren Mobbing-Erlebnissen berichten. „Die Lehrer haben mir nicht geholfen. Ich hatte immer wieder um Hilfe gebeten. Aber sie haben mir nicht geholfen“, schluchzt ein Mädchen ins Mikrophon. Ein Junge erzählt von einer Messerbedrohung durch einen Mitschüler. „Die Lehrer haben uns nicht geholfen, uns wurde auch verboten, mit der Zeitung zu sprechen“, erzählt er weinend.
„Ihr müßt euch verbinden und nicht gegenseitig bekämpfen“, appelliert Stahl. Darum seien „Versammlungen wie diese so wichtig. Nicht um zu hetzen, sondern um aufzuklären und die Mißstände anzusprechen.“ Für ihn sei es wichtig, „dieses Kind, was gestern noch Angst hatte, heute wieder lachen zu sehen“.
Immerhin: Seine Worte scheinen gewirkt zu haben. Inzwischen haben sich zwei der Peinigerinnen in Anwesenheit Stahls und der Bild-Zeitung öffentlichkeitswirksam bei dem Opfer entschuldigt.