Die Energiekrise hat Deutschland weiter im Griff. Angesichts explodierender Kosten und einer unsicheren Strom- und Gasversorgung steht die Zukunft ganzer Industriezweige auf dem Spiel: Autobau, Chemie, Glas und Keramik, Papier- und Metallherstellung sowie die Mineralölverarbeitung. Und angesichts der „Klimakrise“ hält die Mehrheit der Politiker das Aus der oft „schmutzigen“ Branchen für einen „notwendiger Schritt im Strukturwandel der deutschen Wirtschaft“ (JF 13/23). Dafür seien aber die „Perspektiven des Maschinenbaus oder der Elektrotechnik am Standort Deutschland besser“, denn die lieferten „die Technologien, die für eine klimaverträglichere Zukunft benötigt werden“.
Doch ein Blick in den aktuellen Konjunkturbericht für die Metall- und Elektro-Industrie (M+E) widerspricht dem „grünen“ Optimismus: Die Produktion liegt im Frühjahr kalender- und saisonbereinigt nur bei 87 Prozent des Vor-Corona-Niveaus. Maschinenbau und Metallhersteller konnten sich stabilisieren, nur die Elektroindustrie legte um 18 Prozent zu. Das zeigt sich bei den Arbeitsplätzen: Derzeit sind 3,95 Millionen Beschäftigte in der M+E-Branche tätig – 110.000 weniger als 2019 bzw. eine halbe Million weniger als 2005. Und anders als die Durchhalteparolen suggerieren, liegen die Energiepreise für die M+E-Firmen um 129 Prozent über dem Niveau von 2019. Rohstoffe und Vorleistungsgüter wurden um 37 Prozent teuer, rechnet Lars Kroemer, Chefvolkswirt des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall vor.
Der neunte Strukturbericht für die Metall- und Elektro-Industrie bestätigt auf 177 Seiten das düstere Bild. Die Rahmenbedingungen sind seit Beginn der Corona-Pandemie schlecht. Im Herbst 2022 äußerten 97 Prozent der M+E-Firmen, daß sie durch Kostensteigerungen bei Energie und energieintensiven Vorleistungen betroffen seien – jeder sechste Betrieb sogar in einer existenzgefährdenden Art und Weise. Dabei hatte die M+E-Branche große Hoffnungen, nach der Corona-Krise zur Normalität zurückkehren zu können. Doch „Qualitätsverschiebungen und höhere Vorleistungskosten treiben die Umsatzentwicklung stärker an, als es durch den reinen Produktionszuwachs begründet wäre“. Sprich: Ein Teil des Umsatzzuwachses ist rein inflationsbedingt.
Hohe Arbeitsproduktivität und Exporte ermöglichen hohe Löhne
Zeitgeist-Claqueure halten die Deindustrialisierung für ein konservatives „Schreckgespenst“. Es gebe zudem „mittel- bis langfristig Optionen“, die notwendigen „Inputs über Importe zu substituieren“. Das Beispiel Großbritannien zeigt das Gegenteil: verödete Industriestädte und eine chronisch negative Handelsbilanz. Es gibt zwar eine Finanzindustrie, doch aus Frankfurt wird nie eine City of London oder eine New Yorker Wall Street werden. Die deutsche M+E-Branche ist daher weiterhin unverzichtbar: Knapp 60 Prozent der Industrieumsätze, 70 Prozent der Auslandsumsätze der Industrie, mehr als 60 Prozent der Industriebeschäftigten und mehr als zwei Drittel der Entgeltsumme der Industrie wird den M+E-Betrieben erarbeitet.
Die deutsche Autobranche lag mit einer Produktivität von 140.230 Euro pro Erwerbstätigen an der Spitze der M+E-Branche – vor der Elektroindustrie (100.949 Euro) und dem Maschinenbau (86.391 Euro). Der Durchschnitt aller Wirtschaftsbrachen in Deutschland liegt bei 71.882 Euro – die lautstark nach Billigkräften suchende Dienstleistungsbranche erwirtschaftet pro Kopf im Schnitt lediglich 46.088 Euro. Entsprechend hoch oder niedrig sind auch die dortigen Löhne: In den Autokonzernen liegt der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst bei über 5.900 Euro – in der Industrie insgesamt sind es 4.188 Euro. Bei den „sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“ (ohne Handel, Gastgewerbe, Industriedienstleister) wurden nur 2.892 Euro gezahlt.
Doch der lukrative Außenhandel der deutschen M+E-Wirtschaft hat in den vergangenen drei Jahren mehr gelitten als die eigene Produktion oder der Welthandel. Und die Verwerfungen durch gestörte Lieferketten und den Ukrainekrieg konnten in den Gesamtmetall-Daten dabei noch nicht voll berücksichtigt werden. Die immense Bedeutung der M+E-Wirtschaft in Deutschland zeigt sich auch im internationalen Vergleich. Gemeinsam mit China, den USA, Japan und Südkorea gehört Deutschland immer noch zu den fünf Ländern mit der höchsten M+E-Bruttowertschöpfung – doch die deutsche M+E-Branche müsse erhebliche Anstrengungen unternehmen, um die Weltmarktposition zu erhalten.
Das starke Wachstum in den „neuen Wettbewerbsländern“ (Mittel- und Osteuropa, Türkei, Brasilien, Malaysia, Vietnam, Philippinen, Thailand, Indien, Indonesien) führe zu einer deutlichen Kräfteverschiebung: „Nahmen die traditionellen Wettbewerber im Jahr 2000 noch einen Anteil von rund 88 Prozent der Bruttowertschöpfung der G45-Länder ein, sank dieser zugunsten des Anteils der neuen Wettbewerber bis zum Jahr 2020 auf rund 61 Prozent.“ Deutschlands Anteil lag in den Jahren 2000 bis 2018 stabil bei über acht Prozent. Nach der Corona-Krise sank er auf 7,7 Prozent. „Ob aus dieser Entwicklung eine strukturelle Schwächung der internationalen Position erwächst, muß sich in den kommenden Jahren erweisen“, heißt es im aktuellen M+E-Strukturbericht.
Die negative Entwicklung ist vor allem auf den Strukturwandel und die Produktionsrückgänge in der Autobranche zurückzuführen – die Energiewende und die Klimaneutralität verlangen eben Opfer. Doch das ist für liberal-moderne Ökonomieprofessoren wie Steffen Müller sogar eine Chance: Denn „erstens entsteht nicht mehr automatisch Arbeitslosigkeit, wenn Industrien schrumpfen, und zweitens ist der Wechsel von Arbeitskräften in zukunftsfähige Branchen dringender denn je erforderlich“, so der Leiter der Abteilung „Strukturwandel und Produktivität“ am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (Ifo Schnelldienst, 3/23). Es entstünden zwar „private Kosten“ für die betroffenen Beschäftigten, doch der „deutsche Sozialstaat sorgt dafür, daß die Einkommensverluste durch Arbeitsplatzverlust außerordentlich gering sind“. Doch wer soll den Audi- und VW-Vorruhestand und das Bürgergeld bezahlen, wenn die hohen Steuereinnahmen aus der Autoindustrie wegfallen?
Neunter Strukturbericht 2022 und Konjunkturbericht 2023 für die M+E-Industrie: www.gesamtmetall.de