Der Anfang läßt eigentlich nichts Gutes erahnen. Ein langweiliger Gong ertönt zum Beginn der vierten CDU-Regionalkonferenz. Es ist 18 Uhr. Die Veranstaltung soll beginnen. Ort: Van der Valk-Resort in Linstow, gleich an der Abfahrt der Autobahn 19 gelegen. Rund 500 Einwohner, kein Bahnhof. Die CDU tagt in der tiefsten mecklenburgischen Provinz.
Eingeladen sind die norddeutschen Mitglieder aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern sowie den drei niedersächsichen Landesverbänden. Knapp 400 Mitglieder sind gekommen. Auch Brandenburger und Berliner. Aber warum ausgerechnet ins abgelegene Linstow? „Wir wollen den Osten stärken. Da haben wir in der Vergangenheit viel Vertrauen verloren“, heißt es zur Begründung. Mit der Vergangenheit ist die Ära Angela Merkel gemeint. Aber das spricht niemand im Saal so deutlich aus. Und mit Vertrauen ist die katastrophale Wahlbilanz der Partei in dieser Zeit gemeint. Von 16 Landtagswahlen in den neuen Bundesländern gingen während der Kanzlerschaft Merkels zwölf verloren, lediglich bei drei gab es zumindest den Prozentzahlen nach bescheidene Zuwächse. Die vierte, in Sachsen-Anhalt, wurde 2021 zudem durch einen deutlichen Absetzungskurs zur scheidenden Kanzlerin erzielt.
Der Gong um 18 Uhr scheint zunächst an die bleiernen Jahre inhaltsleerer Parteitage zu erinnern, auf denen mit diesem Klangzeichen stets der Beginn angekündigt wurde.
Und doch ändern sich gerade die parteiinternen Rituale. Einmarsch der Spitzenpolitiker. Friedrich Merz, Carsten Linnemann, Mario Czaja. Beifall. So wie gehabt. Doch Friedrich Merz wird mit Freude empfangen, es ist kein kalthöflicher Applaus. In den Augen vieler Mitglieder läßt sich Hoffnung und Aufbruchstimmung ablesen. Als die Polit-Prominenz das Podium erreicht, läßt sie sich nicht wie früher üblich lange feiern, geht sofort in den Arbeitsmodus über.
Eine Politikerin fehlt. CDU-Bundesvize Karin Prien, eigentlich für das Podium vorgesehen, hat abgesagt. In Kiel dauere die Landtagssitzung länger, lautet die offizielle Begründung. „Die kneift“, raunen sich einige zu. Tatsächlich stoßen ihre oftmals links der Mitte angesiedelten Positionen im Osten auf wenig Gegenliebe.
Daß inhaltlich ein neuer Wind wehen soll, macht CDU-Generalsekretär Mario Czaja gleich zu Beginn klar, schaltet sofort auf Angriff. „Das wird hier kein Kaminabend heute. Außer bei Manuela Schwesig, da ist ja immer Kaminabend.“ Erste Lacher aus dem Plenum. „Wir wollen wieder unterscheidbar sein“, kündigt Czaja ein Ende der Inhaltsleere an. Und: „Wir wollen wieder ein Programm, wo hundert Prozent CDU drin ist.“
Die Partei habe aus ihren Fehlern gelernt, an ihren „Kompetenzthemen“ gearbeitet. 60 Fachkommissionssitzungen hat die Partei inzwischen für die Erarbeitung des neuen Grundsatzprogramms abgehalten. Das Ziel: Mitglieder und Wähler sollen wieder wissen, wofür die Christdemokraten stehen. „Jeder, der nachts geweckt wird, soll sagen können: Für diese drei Punkte steht die Union“, formuliert es Carsten Linnemann immer wieder. Auf dem Podium ist der Leiter der neuen Programm- und Grundsatzkommission als Moderator und Motivator in Aktion. Mit „ja, super“ und „klasse“ , feuert er Redner immer wieder an.
Gerade im Osten hatte es während der Merkel-Ära wiederholt Unmutsäußerungen über den Kurs der Parteiführung gegeben. Davon ist im Saal nichts mehr zu spüren. „Ich fühle mich seit langer Zeit von meiner Partei wieder mitgenommen“, zeigt sich eine CDU-Frau aus Hamburg im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT zufrieden. Unmut kommt in Linstow nur ein einziges Mal auf. Als ein Mitglied das 49-Euro-Ticket lobpreist, geht ein Raunen durch den Saal, und auch die Parteigranden auf dem Podium machen schnell deutlich, daß sie eine andere Meinung dazu haben. Friedrich Merz warnt in seiner Rede davor, daß totalitäre Ideologien wieder auf dem Vormarsch seien. „Die Zweifel an unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nehmen von Monat zu Monat zu.“ So habe der Spiegel in einer seiner Ausgaben kürzlich mit der Frage aufgemacht, ob Marx nicht doch recht habe.
In der CDU dürfe es „nie Zweifel darüber geben, daß wir ohne Wenn und Aber auf der Seite der Freiheit und im gegenwärtigen Fall auf der Seite der Ukraine stehen“, mahnt Merz an. Beifall im Saal. Selbst hier, tief im Osten. Und ein deutliches Signal in Richtung des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, der die Partei außerhalb des Freistaats mit anderslautenden Äußerungen mehrfach irritiert hatte. So wie Prien in Linstow war Kretschmer eigentlich einen Tag zuvor beim Treffen in Schkeuditz für das Podium vorgesehen. Auch er sagte ab, zog einen Talkshow-Auftritt bei Maybrit Illner im ZDF vor. „Das kam bei vielen Mitgliedern gar nicht gut an“, sagen sächsische Christdemokraten der JF.
„Haben verloren, weil wir nicht gut genug waren“
Auch die Ideologisierung des Klimawandels mache ihm Sorgen, behauptet Merz. „Merkt diese Bundesregierung eigentlich nicht, daß sie über die Köpfe der Menschen hinwegregiert?“ Statt mit Ideologie und Pessimismus müßten Probleme des Klimaschutzes mit Methoden der sozialen Marktwirtschaft gelöst werden. Deutschland müsse dabei „alle technologischen Möglichkeiten ausschöpfen“, auch die Kernkraft dürfe nicht ausgeschlossen werden. „Wir müssen ein Land werden, das in Technologien einsteigt und nicht überall aussteigt“, appelliert der Vorsitzende unter lautem Applaus der Mitglieder. Manche sehen darin eine Abkehr von Merkel, die vor etwas mehr als zehn Jahren unter dem donnernden Beifall der CDU-Bundesdelegierten ihre „Energiewende“ und den damit verbundenen Ausstieg aus der Kernenergie durchgesetzt hatte.
Jetzt sei „nicht die Zeit der Bürokraten, dies ist die Zeit der Ingenieure“, verkündet der CDU-Chef, als riefe er eine Art parteiinterne Zeitenwende aus. Man habe im vergangenen Wahlkampf „schöne Formulierungen gefunden, aber keine Antworten gegeben“. Das schlechte Wahlergebnis bei der Bundestagswahl sei „nicht zustande gekommen, weil die anderen so gut waren, sondern weil wir nicht mehr gut genug waren.“
Einige Tage vor der als Basistreffen orchestrierten Veranstaltung rechnete bereits die noch relativ junge CDU-nahe Denkfabrik „R21“ bei einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Deutschland nach Merkel“ mit dem Kurs der Ex-Kanzlerin ab. Zahlreiche Teilnehmer kritisierten den Linkskurs der vergangenen Jahre. R21-Initiator Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte in Mainz, leitet die Grundwertekommission der Partei und arbeitet am neuen CDU-Programm mit.
Pünktlich zur Konferenz seines Thinktanks erschien ein Manifest, das der medienaffine Rödder gemeinsam mit der früheren CDU-Familienministerin Kristina Schröder entworfen hat. Schlagwortartig wird darin zur „bürgerlichen Wende“ und „Generalreform“ des Landes aufgerufen: Der Staat – angefangen bei der Bundesregierung – müsse verschlankt werden, Deutschland „nach innen und nach außen Führungswillen“ zeigen. Dazu gehöre, die geopolitischen Interessen des Landes deutlich zu formulieren und „deutsche Sonderwege“ auf Basis „angenommener moralischer Überlegenheit“ zu vermeiden. Wichtig sei zudem „eine offene Debattenkultur, die das Denken in alternativen Szenarien einschließt und so Gestaltungsspielräume des demokratischen Wettbewerbs eröffnet“.
Daß solche Aufrufe zu einer „Tendenzwende“ im Konrad-Adenauer-Haus auf offene Ohren stoßen werden, davon dürften sogar die R21-Denkfabrikanten nicht ausgehen. Insbesondere die in der Union verbliebenen Konservativen wittern in der CDU-Parteizentrale einen Hort der Beharrungskräfte.
Als greife er solche Kritik auf, beschreibt Parteichef Merz den Fahrplan zur inhaltlichen Neuaufstellung der CDU in Linstow so: Im ersten Jahr nach seiner Wahl zum Partei- und Fraktionsvorsitzenden habe er sich zunächst darauf konzentrieren müssen, eine arbeitsfähige Bundestagsfraktion aufzubauen. Dies sei nun erfolgt. „Im zweiten Jahr richte ich den Schwerpunkt auf die Partei aus.“
Noch bis Mitte April kann die Basis an einer Online-Mitgliederumfrage teilnehmen. Dort dürfen die Christdemokraten anklicken, welche Themengebiete sie für „besonders wichtig“, „noch wichtig“ oder „weniger wichtig“ halten; sei es beispielsweise Klimaschutz, Generationengerechtigkeit, faire Löhne, die Stärkung von Familien oder der Schutz des Lebens. In weniger Fällen gibt es eine Wahlalternative: Etwa zwischen „Deutschland sollte mehr Führungsverantwortung übernehmen und sich europäisch und international stärker engagieren“ oder „Deutschland sollte sich vor allem auf seine eigenen Interessen konzentrieren und darauf achten, daß es Deutschland gut geht“.
Die Ergebmisse der Umfrage werden am 17. April präsentiert. Bis Mai 2024 soll dann das Grundsatzprogramm stehen und beschlossen werden.