Der frühere kanadische Psychologieprofessor Jordan B. Peterson ist heute einer der weltweit bekanntesten konservativen Intellektuellen. Das war ihm nicht in die Wiege gelegt. Peterson ist in einem kanadischen Provinznest aufgewachsen, wo sein Vater Bibliothekar an einem kleinen College war, was Petersons spätere Liebe zu den großen Autoren aus Weltliteratur und Philosophie (Dostojewski, Nietzsche, Jung) erklären könnte. Nach seiner Promotion in Psychologie an der renommierten McGill-Universität in Montreal war Peterson einige Jahre lang Assistenzprofessor in Harvard, wo er sich mit Drogen- und Alkoholmißbrauch in Familien beschäftigte, um schließlich zur Jahrtausendwende zurück nach Kanada zu gehen, wo er in Toronto an der dortigen Universität dann Lehrstuhlinhaber im Fach klinische Psychologie war, was er bis 2021 blieb.
Ein Mann mit einem solchen Lebenslauf ist nicht prädestiniert, einer der konservativen Vordenker in der angelsächsischen Welt zu werden – und lange war Peterson das auch nicht. Lange hat er wie seine akademischen Kollegen brav Fachartikel und Bücher geschrieben, die ihn in der engen Welt seines Faches ins Gespreäch brachten, mit denen er aber kein größeres Publikum erreichte.
Dann veröffentlichte Peterson 2018 den Ratgeber „12 Rules For Life: Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt“, der ihn schlagartig bekannt machte. Nun gibt es Selbsthilfe-Ratgeber wie Sand am Meer, und die meisten verschwinden bald wieder in der Versenkung. Petersons erstes Buch aber hat sich millionenmal verkauft und ihn weltberühmt gemacht. Plötzlich war der kanadische Psychologieprofessor weltweit ein gefragter Interviewpartner und Vortragsredner und Betreiber eines Youtube-Kanals, der sechseinhalb Millionen Abonnenten hat – mehr als Spiegel und Bild-Zeitung zusammen.
Auf den ersten Blick ist der Erfolg der „12 Rules For Life“ ein bißchen überraschend, wenn man sich anschaut, was diese zwölf Lebensregeln eigentlich besagen. Peterson teilt seinen Lesern nämlich keineswegs tiefe und neue Einsichten mit, sondern bietet Erkenntnisse, auf die jeder selbst kommen könnte: „Sag die Wahrheit“, lautet Regel Nr. 8, „Drück‘ dich klar aus“, sagt Regel 10, und „Tu Dinge, die Sinn haben“ besagt Regel 7. Aber es ist weniger der Wortlaut dieser im Tonfall von Benjamin Franklin und Dale Carnegie verfaßten Lebensregeln als die Verve und pure Überzeugung, mit der Peterson schreibt und spricht, die seine Leser begeistern. In einer sophistischen Welt relativistischer Wohlfühlethiken, in der positive Wahrheiten nicht zugelassen sind und alles in Leben, Gesellschaft und Politik ex negativo begründet wird, sagt da einer klar und bündig und mit Worten, die in ihrer apriorischen Schlichtheit von den amerikanischen Gründervätern stammen könnten, was gut, richtig und erstrebenswert ist.
Nach einem Buch mit zwölf neuen Lebensregeln („Beyond Order“) hat Peterson aktuell ein „Konservatives Manifest“ veröffentlicht, in dem er auf einige Dutzend Seiten kurz und knapp darstellen will, woraus konservatives Denken heute besteht und wie es sich begründen läßt. Peterson beginnt sein Büchlein mit der Feststellung, daß die Menschen der westlichen Welt, ihre Gesellschaften und Institutionen derzeit von einer tiefgreifenden Sinnkrise erschüttert würden. Die Wurzeln dieser Sinnkrise liegen im Zweifel an allen Werten, der Ignoranz gegenüber ihrer geschichtlichen Entstehung und dem daraus resultierenden Willen zur Macht, der zur alleinigen Triebkraft einer Gesellschaft wird, die Werte und Glaubenssätze aufgegeben hat.
Das ist guter, später Nietzsche, den Peterson erkennbar gründlich gelesen hat. Aber im Gegensatz zu Nietzsche, der den Willen zur Macht in einer säkularen Gesellschaft, wenn überhaupt, dann durch hochtalentierte „Übermenschen“ überwunden sieht, will Peterson Lösungen für all jene anbieten, „die versuchen, an den traditionellen Werten unserer Vergangenheit festzuhalten und einen unerschütterlichen Glauben an sie demonstrieren“. Er will also lange aufgegebene Werte wieder etablieren. Welche Werte sind das? Peterson nennt Demut, Freiheit, Autonomie, Wahrheit, Handlungsfähigkeit, Identität, Leistung, Verantwortung, Tradition, Gemeinschaft, Schöpfungsverantwortung, Gerechtigkeit und Einigkeit – und begründet dann jeden einzelnen im Hauptteil seines Manifests.
Überraschend an dieser ethischen Tour de force ist, daß Peterson die von ihm propagierten Werte nicht mit dem Rekurs auf organische Kollektivgebilde (Nation, Volk, Staat) erklärt oder sie, wie Edmund Burke, auf historisch gewachsene Institutionen zurückführt, was Konservative normalerweise tun, sondern sie mit dem „ehrlichen und ungehinderten Diskurs unter Männern und Frauen“ begründet – eine Aussage, die auch von Habermas stammen könnte. Überhaupt argumentiert Peterson oft weniger von einem typisch konservativen als einem libertären Standpunkt her. Das Kurzkapitel „Leistung“ beginnt mit der Feststellung, daß „die Fähigkeiten der einzelnen Menschen sehr unterschiedlich sind“, und erklärt dann, daß diese unterschiedlichen Fähigkeiten am besten durch „freie Entscheidungen der Akteure auf freien Märkten zustande kämen, wodurch Fortschritt und Wohlstand entstünden“. Das sind alles zutreffende Feststellungen, die man allerdings genauso auch bei Ludwig von Mises oder Friedrich von Hayek lesen kann. Aber Peterson argumentiert keineswegs immer wirtschaftsliberal: Armut und Ungleichheit hält er für naturgegeben, weshalb die Antwort darauf weder mehr Markt noch Umverteilung sein kann, sondern Duldsamkeit der Schwachen und mitfühlende Humanität der Starken, die fürsorglich, großzügig und wohltätig sein sollen.
In einem großangelegten Fazit will der Kanadier aber nicht nur Moralprinzipien aufstellen, er will auch lebenspraktische Ratschläge erteilen. Ehe, Familie und Freundschaft sind für ihn die Institutionen, die den Mittelpunkt eines gelungenen Lebens bilden, das dann mit einer sinnvollen Beschäftigung und zivilem Engagement ausgefüllt werden muß – nur so stellt sich Erfolg ein.
Jordan B. Peterson steht in diesem Konservativen Manifest manchmal kurz davor, in den Ton einer calvinistischen Sonntagspredigt zu verfallen, aber sein schierer gesunder Menschenverstand und sein fast schon naiver Mut, vergessene, verachtete und verpönte Tugenden in den Mittelpunkt einer konservativ-freiheitlichen Grundordnung zu stellen, die auch junge Menschen begeistert, macht ihn zu einer Ausnahmegestalt und dieses Manifest zu einem außergewöhnlichen Buch.
Jordan Peterson: Konservatives Manifest. Fontis Verlag, Basel 2023, gebunden, 88 Seiten, 15,90 Euro