Am Ende seines neuen Buches stellt Ingo von Münch zehn Thesen zur Gendersprache auf: Es gebe Wichtigeres als die Einführung der Gendersprache, versucht er in seiner ersten These zu beruhigen. Diese Behauptung ist freilich zweischneidig, denn beide Seiten könnten sie für sich ins Feld führen. Gegner der Gendersprache könnten zwar sagen: „Beschäftigt euch doch lieber mit Wichtigerem als mit dem Gendern.“ Doch Befürworter könnten wiederum anführen: „Habt euch doch nicht so, es gibt Wichtigeres als euren Kampf gegen Gendersternchen.“
Die Spaltung der Sprachgemeinschaft ist jedoch eine Tatsache. Ein Sprachgebrauch, den nur eine kleine Minderheit gut findet, wird aus ideologischen Gründen der Mehrheit aufgedrängt. Das schlägt regelmäßig hohe Wellen in der öffentlichen Debatte. Obwohl es also seiner Ansicht nach Wichtigeres gibt, hat der Staatsrechtler Ingo von Münch ein ganzes Buch zu diesem scheinbar unwichtigen Thema geschrieben. „Gendersprache: Kampf oder Krampf?“ heißt die jetzt bei Duncker & Humblot erschienene Studie.
Der Autor hat als FDP-Politiker und bekannter Grundgesetz-Kommentator eine beeindruckende Lebensgeschichte vorzuweisen. In der Freien und Hansestadt Hamburg war er nicht nur FDP-Vorsitzender in den 1980er Jahren, sondern auch von 1987 bis 1991 Zweiter Bürgermeister und Senator für Wissenschaft und Kultur.
Ingo von Münch war also in einer Zeit tätig, als amtliche Schriftstücke noch nicht mit Gendersternen verhunzt wurden, als die Oberlehrer der Gendersprache Wissenschaft und Kultur noch weitgehend verschonten. Eine Volksinitiative gegen das Gendern, für die derzeit in Hamburg Unterschriften gesammelt werden, war damals nicht notwendig. Von Münchs 2017 ebenfalls bei Duncker & Humblot erschienenes Buch „Meinungsfreiheit gegen Political Correctness“ beweist, daß er noch zu den Liberalen gehört, für die das Wort „Freiheit“ mehr ist als nur ein Lippenbekenntnis. Diese Haltung prägt das ganze Buch. Die Thesen am Ende stellen in gewisser Weise eine Zusammenfassung dar.
In seiner zweiten These bestreitet von Münch, daß es sich bei der Einführung der Gendersprache um einen Sprachwandel handle, denn sie erfolge durch politischen und institutionellen Druck. Damit hat er recht. Die Sprachwissenschaft führt den Sprachwandel auf das Wirken einer „unsichtbaren Hand“ zurück, wodurch sich der Sprachgebrauch ungewollt und ungeplant ändere. Beim Gendern mit Hilfe von zahllosen Handreichungen, Richtlinien, Empfehlungen, Aufforderungen und Anweisungen handelt es sich jedoch eindeutig um zielgerichtete Sprachplanung und Sprachpolitik.
Von Münch weist in seinen weiteren Thesen darauf hin, daß die Einführung von Gendersternen und anderen typographischen Sonderzeichen Ausländern beim Erlernen der deutschen Sprache Schwierigkeiten bereitet; daß die Gendersprache nicht dem Feminismus entspringt, sondern der „Betroffenheitskultur“ und der „Woke-Kultur“, wobei das Wort „Kultur“ in diesem Zusammenhang eher als unangebracht erscheint; daß Gendern „zuweilen zu Peinlichkeiten oder zu Geschmacklosigkeiten“ führt; daß mehr Sachlichkeit die Debatte um die Gendersprache bestimmen sollte; daß die Zukunft der Gendersprache ungewiß ist; daß die von einer „abgehobenen Elite“ gebrauchte Gendersprache andere ausschließt; daß Genderkritiker manchmal mit ihrer Kritik über das Ziel hinausschießen; daß trotzdem Widerstand gegen die Gendersprache geleistet werden sollte.
Eine Lücke in der Studie Ingo von Münchs ist freilich bedauerlich. Zwar geht er in einem Abschnitt ausführlich darauf ein, wie sich die Stadt „Hannover an der Leine einer Gutachterin“ bescheinigen läßt, daß das Gendern verfassungsmäßig geboten sei. Das einschlägige Gegen-Gutachten des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, läßt er dabei jedoch unberücksichtigt.
Grundsätzlich neue Erkenntnisse liefert das Buch alles in allem zwar nicht. Sein Wert liegt jedoch an anderer Stelle: Es ist eine übersichtliche Zusammenfassung bekannter Knackpunkte des Genderns, voller einleuchtender Beispiele und Zitate bekannter Persönlichkeiten. Was das Buch auszeichnet, ist der hanseatisch-nüchterne, juristisch-unanfechtbare und liberal-freiheitliche Tonfall, der das gesamte Werk prägt.
Ingo von Münch: Gendersprache – Kampf oder Krampf? Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2023, broschiert, 93 Seiten, 19,90 Euro