© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/23 / 24. März 2023

Mit dem ganz großen Holzhammer
Das vom französischen Historiker Stéphane Courtois und der Journalistin Galia Ackerman herausgegebene „Schwarzbuch Putin“ besticht keineswegs durch abgewogene Urteile
Thomas Fasbender

Es lohnt sich, die Sichtweisen des sogenannten globalen Südens – Indien, Türkei, Südamerika, Afrika, Südostasien und andere – auf die russische Politik insgesamt, aber auch auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu studieren. Also die Sichtweisen der nichtwestlichen Länder: mehr als 85 Prozent der Weltbevölkerung. Deutsche Medien und Politiker, zuletzt der deutsche Bundeskanzler in Brasilien und Indien, sind baß erstaunt, wenn ihre dortigen Gesprächspartner sie mit einer differenzierten Einordnung konfrontieren. Wobei das Wort „differenziert“ nicht meint, daß man in Indien oder Brasilien oder anderswo die russische Kriegsschuld leugnet. Auch nicht die moralische Schuld oder die Tatsache, daß Rußland mit seinem Krieg das Völkerrecht bricht.

Der Unterschied liegt darin, daß nur der globale Westen den Krieg als heilsgeschichtliches Ringen zwischen den Mächten des Lichts (Demokratie) und den Mächten der Finsternis (Autokratie) interpretiert. Auch der Bundeskanzler nutzt den Wortschatz des Heiligen Kriegs; dem russischen Präsidenten wirft er einen „Kreuzzug“ gegen die westlich-liberale Demokratie vor. Mit dem Narrativ vom Kampf Gut gegen Böse folgt Olaf Scholz der herrschenden Meinung in den Medien und der Literatur. Ein treffendes Beispiel ist das kürzlich bei Piper erschienene „Schwarzbuch Putin“ der Franzosen Stéphane Courtois und Galia Ackerman.

Schon der Titel stellt die Aufsatzsammlung in eine Reihe mit Courtois’ vieldiskutiertem „Schwarzbuch des Kommunismus“ aus dem Jahr 1997. Dessen damals provokante Quintessenz war die moralische Gleichstellung der Untaten des Kommunismus mit den Untaten des deutschen Nationalsozialismus. Damit ist die Stoßrichtung seines jetzt vorgelegten „Schwarzbuch Putin“ bereits beschrieben. Neben den Herausgebern präsentieren 13 vornehmlich französische Autoren zwei Dutzend Beiträge auf 450 Seiten, eingebettet in eine Rahmenerzählung, die Putin und Rußland als rückständige, rückwärtsgewandte und dem historischen Fortschritt widerstreitende Akteure erscheinen lassen.

Damit steht das „Schwarzbuch“ in einer Reihe mit Dutzenden Veröffentlichungen der vergangenen zwanzig Jahre. Wenn es an etwas nicht mangelt, dann an putinkritischen Monographien. Putin der Dämon, der Agent, der Kleptokrat, der Despot – kein Aspekt im Charakter und in der Biographie des russischen Präsidenten, dessen infernalische Qualität nicht schon beleuchtet wurde. Auch die in dem „Schwarzbuch“ als „einzigartig“ herausgestrichene These, wonach der Mann das Produkt einer über Jahrzehnte von langer KGB-Hand vorbereiteten Auferstehungsstrategie des sowjetischen, expansiven Rußlands sein soll, ist alles andere als revolutionär.

Neues Material oder neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten. Wer die einschlägige Literatur kennt, begegnet altem Wein in nicht sehr neuen Schläuchen. Dabei sind einige Beiträge durchaus interessant, etwa die detailreichen Kapitel „Putins Jargon“, „Tschetschenien unter Putin“ und „Wladimir Putin und das ukrainische Geheimdienstfiasko“. Erhellend ist auch Karl Schlögels Einordnung des Putinismus als cäsarischer Herrschaftsstil, eine Art postmodern inszenierte Legitimation autoritärer Macht. Claus Leggewies Ansatz, an Putins Reich faschistoide Züge auszumachen, mag stichhaltig sein, ist aber inflationär abgenutzt in einer Zeit, in der schon ein kritisches Wort dem Urheber das Etikett „Nazi“ eintragen kann.

Anderen Beiträgen fehlt schlichtweg die Autorität geschichtswissenschaftlich distanzierter Betrachtung. Das betrifft besonders die Herausgeber. Schon in der Einleitung verbreiten sie eine durch Fakten nicht belegte Verschwörungstheorie: „Putin ist Oberstleutnant, aber über ihm gibt es Generäle.“ Der russischen Politik unterstellen sie einen seit Stalin ungebrochenen, auf die Spaltung und Zerstörung der westlichen Zivilisation gerichteteten Impetus. Daß sie damit einen propagandistischen Mythos bedienen, wird nicht diskutiert. Es ist diese Rahmenerzählung, die das „Schwarzbuch“ trotz mancher fundierter Beiträge zur Kampfschrift herabwürdigt.

Zugleich erklärt die Kernthese – Putin als der Vollstrecker des ewig bösen KGB-Plans zur Beherrschung der Welt –, warum westliche Autoren sich an dem Präsidenten und seinem eigenartigen, unverstandenen Rußland so mühsam und ergebnislos abarbeiten. Beschreibt sie doch den existentiellen Gegenentwurf zum westlichen Selbstverständnis, Speerspitze des historischen Fortschritts zu sein. An dessen Ende – so das Selbstverständnis – steht die liberal-demokratisch-individualistisch verfaßte Menschheitsordnung. Die aber ist eine heilsgeschichtliche Utopie und zugleich die heilige Mission des europäischen Westens.

Vor diesem Hintergrund spielen Putin, der KGB und das imperialistische Rußland die Rolle des bösen Antagonisten. Oder die Rolle des Antichrist, um die Terminologie zu bemühen, in der solches Denken wurzelt. Und der Antichrist muß ausgetrieben werden, exorziert mit Stumpf und Stiel. Entsprechend gipfelt das „Schwarzbuch“ in der Forderung: „Der Aggressor muß für seine Aggression hart bestraft werden (…). Nur eine solche Bestrafung wird die Russinnen und Russen (…) zur Besinnung bringen. Eine Rückkehr zum Vorkriegsverhältnis zu Rußland darf nicht in Frage kommen.“

Damit wird der künftige Eiserne Vorhang in einer Zukunft nach einem Konflikt ohne eine erwartbare bedingungslose Kapitulation beschrieben: höher denn je. Nimmt man das „Schwarzbuch“ als repräsentativ für die neue Haltung der westlichen Eliten dem großen Nachbarn im Osten gegenüber, drängt sich die Schlußfolgerung auf: Der Heilige Krieg droht nicht zwischen dem Islam und dem säkularen Westen. Der Heilige Krieg tobt zwischen Ost und West in Europa.

Stéphane Courtois, Galia Ackerman (Hrsg.): Schwarzbuch Putin. Piper Verlag, München 2023, gebunden, 512 Seiten, 26 Euro