Etwa sechs Millionen Muslime leben mittlerweile in Deutschland. Durch einen weiteren Zustrom von Einwanderern aus dem muslimischen Kulturraum zwischen Hindukusch und dem Maghreb überqueren monatlich Tausende die deutsche Staatsgrenze. Welche Auswirkungen das für Deutschland und den europäischen Kontinent haben könnte, zeigt die Geschichte des Islams. Und diese ist gespalten: In seinem Buch präsentiert Hamed Abdel-Samad so zum einen die Hochzeit des Islams, in der Friede und Toleranz das Zusammenleben der Religionen bestimmte, als auch die Zeit grausamer Kalifen, in der Andersgläubige unterjocht oder getötet wurden.
Dabei ist der Islam schon seit seiner frühen Zeit durch andere Religionen und Kulturen geprägt. Wie der Glaube im arabischen und europäischen Raum dabei zutage trat, hing jedoch schon immer mit den politischen und gesellschaftlichen Umständen zusammen. Das machte es bereits dem Propheten Mohammed schwer. Als dieser zu Beginn seiner religiösen Karriere versuchte, die neuartigen Glaubenslehren im damals noch polytheistisch geprägten Mekka zu verbreiten, fand er kaum Gehör. Als einer unter vielen Predigern zurückgewiesen, verstand er laut Abdel-Samad schnell, daß politische Macht der Schlüssel seines Erfolges sein würde. Nach dem Auszug von Mekka nach Medina im Jahre 622 baute er daher nicht nur die Zahl seiner Anhängerschaft aus. Aus den Lehren des Propheten entstand durch unzählige Regelungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Koran auch ein eigenes Staatssystem. Das arabische Reich, das daraus erwuchs, bekam durch den Islam nicht nur eine Legitimation, sondern gleichzeitig auch einen Gründungsmythos.
Während der Anfangstage des Islam wurden jedoch vordergründig die politischen Machtverhältnisse anstelle religiöser Lehren in die mit dem Schwert eroberten Gebiete importiert. Vorbilder fand das noch kleine Araberreich in den Großreichen Persien und Byzanz, die man nicht nur bekämpfte, sondern auch kopierte. Erst später, als sich aus den losen Lehren eine eigene Religion formierte, rückte diese stärker in den Mittelpunkt der Kalifenherrschaft, so Abdel-Samad. Fortan zeigten sich vor allem zwei Ausprägungen des Islams: tolerant und florierend sowie abgeschottet und dogmatisch. Immer dann, wenn orthodoxe Kräfte an der Spitze des Reiches walteten, bedeutete das Einschränkungen für Christen und Juden, die Abkehr von „nichtislamischem Denken“. Gemeint war damit etwa die Förderung von Philosophie, Musik und Tanz, aber auch Wirtschaft und Wissenschaft. Einzig während der Blütezeit des Islam, während der Regentschaft der Abbasiden zwischen 750 und 1250, konnte sich das Zusammenleben frei entfalten – und beeinflußte durch Rückbesinnung auf griechische Gelehrte sogar die europäische Aufklärung.
In den muslimischen Staaten selbst fand diese jedoch nie statt. Noch heute wettern radikale Prediger gegen den aufgeklärten Westen. Auf die moderne Welt habe der Islam laut Abdel-Samad bisher nur zwei Antworten parat: Zum einen die Rückkehr zum Ursprung und damit die Wiederherstellung des Kalifats sowie die Hinwendung zur Ideologie eines panarabischen Nationalismus. Die Romantisierung dessen führe nach Abdel-Samad nicht nur zum Islamischen Staat und extremistischen Dschihad-Kämpfern, sondern auch zu totalitären Regenten wie Erdoğan. Ein säkularer Staat hat sich im arabischen Raum bis heute nicht formiert. Nach 1918 verpaßte man es, moderne Nationalstaaten zu gründen.
Der gebürtige Ägypter umreißt, was das für Deutschland bedeutet. So richten sich auch heutige Salafisten noch nach den strengen Dogmen vergangener Kalifatzeiten. Indem sie Flüchtlingshilfe leisten oder predigen, verteilen sie altes Gedankengut in den Köpfen anderer Muslime. Einen noch viel stärkeren Einfluß hat der politische Islam in Form von Organisationen wie Ditib, die vor allem konservativ-orthodoxe Prediger in die Moscheen entsenden. Ein echtes Geheimrezept, was in den nächsten Jahren passieren muß, um das Zusammenleben zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen zu verbessern, hat der Religionskritiker nicht. Allerdings betont er, daß der Islam seine Hochzeit in Zeiten von Toleranz und Frieden fand, nicht jedoch in Abgrenzung und Verteufelung alles Fremden. Daß sich die Religion in diese Richtung liberalisieren könnte, scheint jedoch aufgrund orthodox geprägter arabischer Staaten aktuell eher unwahrscheinlich.
Hamed Abdel-Samad: Islam. Eine kritische Geschichte. dtv Verlagsgesellschaft, München 2023, gebunden, 320 Seiten, 24 Euro