Für Wolfgang Bittner ist der Fall klar: „Die Ukraine als Brückenland zwischen Rußland und Westeuropa wurde zur Durchsetzung des Weltmachtanspruchs der USA zu deren Frontstaat gegen Rußland und zum Schlachtfeld eines Stellvertreterkriegs. Ziel war und ist der Regimechange in Moskau.“ Die Geopolitik, nach 1945 in Deutschland tabuisiert, erklärt für den Autor den Ukraine-Rußland-Krieg.
Die USA, so Bittner, wandelten auf den Spuren des britischen Geographen Halford Mackinder (1861–1947), für den der Schlüssel zur Weltmacht in der Beherrschung des Kernlands („Heartland“) Eurasien liege, etwa das Gebiet der späteren Sowjet-union. Nur mit der Ukraine könne Rußland wieder „Heartland“ sein und damit im kontinentalen Bündnis mit Deutschland oder China als Verbindung von Technologie und Rohstoffen eine Seemacht wie die USA gefährden. Das wollten die US-Eliten verhindern. Daß es ihnen mit „Aggressions- und Sanktionspolitik gelungen“ sei, Rußland von Westeuropa zu trennen, ist für Bittner eine „Jahrhunderttragödie“.
Wolfgang Bittner, 1941 im oberschlesischen Gleiwitz geboren, hat mehr als siebzig Bücher geschrieben. Politisch steht er links und ist Autor der „NachDenkSeiten“. Seine neuen Betrachtungen zum Ukraine-Konflikt sind nach „Die Eroberung Europas durch die USA“ (2014) bereits das vierte Buch, das sich mit der US-Politik des Weltmachtanspruchs in Osteuropa und der unglücklichen Rolle des vom Hegemon getriebenen Deutschland befaßt.
Deutschland? Bittner gehört zu den wenigen Linken, die die Lage Deutschlands – „als europäischer Brückenkopf der USA gegen die Sowjetunion in Stellung gebracht und nach deren Auflösung gegen Rußland“ – mit den Folgen der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg beschreiben. Verweigerter Friedensvertrag, UN-Feindstaatenklauseln, Truppenstationierungsvertrag, der große US-Luftwaffenstützpunkt in Ramstein mit von dort gesteuerten Drohnenangriffen, unzählige US-Thinktanks – all das beweist für den Autor: Wir sind im Griff der Amis. Deshalb schweigt die politisch-mediale Klasse zu Ungeheuerlichkeiten wie der sehr wahrscheinlich durch die USA verantworteten Sprengung der Nordstreamleitungen. Und trägt klaglos die schweren Sanktionsfolgen gegen Rußland mit.
Selbst im Ukraine-Konflikt sieht der Autor den Bösewicht in Washington. Aggressive Töne aus Moskau, alte „russische Erde“ wieder zu sammeln und dabei der Ukraine die Souveränität zu verweigern, negiert Bittner ebenso wie den Wunsch vieler Ukrainer, nach Westen zu schauen. Auch deshalb gilt er vielen als „Putin-Freund“ und „Verschwörungsideologe“. Bittners Buch ist ein erkenntniserweiternder scharfer Kontrast zum Schwarz-Weiß-Narrativ des Ukraine-Kriegs als Kampf der Guten gegen die Bösen (Putin). Der Autor legt den Fokus auf die Vorgeschichte des Konflikts: „Die Unterwanderung der Ukraine mit dem Ziel, sie in das westliche Bündnis einzubinden, begann bereits kurz nach dem Zerfall der Sowjet-union 1991.“ Die Orangene Revolution 2004 und der „blutige Putsch“ 2014 auf dem Maidan-Platz in Kiew mit Hilfe von „Bandera-Faschisten“ und CIA seien Marksteine gewesen, die Ukraine ins westliche Lager zu ziehen. Die Krim-Annexion war nur Moskaus Antwort. Bittner nennt deren von den berüchtigten „Grünen Männchen“ der russischen Armee begleitete Rückgewinnung samt umstrittenem Referendum eine „friedlich verlaufene Sezession“. Ähnlich bewertet er die Abspaltung der Oblasten Donezk und Luhansk im Osten. Die Ukraine sei seit 2014 vom Westen massiv aufgerüstet und die russischsprachigen Bewohner im Osten drangsaliert und mit Artilleriefeuer belegt worden. „Das war der Anfang des Krieges in der Ukraine“, schreibt Bittner.
Warum aber Putin dann im Februar 2022 die Eskalation der „Spezialoperation“ genannten Invasion beschlossen hat, bleibt nebulös. Der Autor referiert Moskaus Behauptungen eines massiven ukrainischen Angriffs auf den Donbass samt drohenden Genozids an der russischsprachigen Bevölkerung. Putins Einmarsch erscheint als Präventivkrieg, nachdem Moskau jahrelang der Nato-Ausdehnung nach Osten ohnmächtig zugeschaut habe. Mit dem Versuch, jetzt auch noch die Ukraine zum Teil des Westens und Nato-Mitglied zu machen, sei für Moskau die „rote Linie“ überschritten. Tatsächlich hat Putin mit seiner „Spezialoperation“ Rußland ins Unrecht gesetzt. Wie auch immer dieser Krieg ausgeht – für längere Zeit ist Rußland der neue Paria, mit vielen negativen Folgen. All das reflektiert Bittner nicht. Er hofft auf Frieden, postuliert den Nato-Austritt. Zudem fordert er von den Regierenden eine „Besinnung auf deutsche Interessen“. Zumindest beim letzten Punkt ist dem Autor uneingeschränkt zuzustimmen.
Wolfgang Bittner: Ausnahmezustand. Geopolitische Einsichten und Analysen unter Berücksichtigung des Ukraine-Konfliktes. Verlag zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausen 2023, broschiert, 288 Seiten, 19,90 Euro