© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/23 / 24. März 2023

Im Zweifel westlich
Christentum, Aufklärung und Bürgergesellschaft: Der Chemnitzer Historiker Frank-Lothar Kroll über Brüche und Kontinuitäten einer gemein-samen europäischen Identität
Eberhard Straub

Aus dem griechischen Begriff europaios oder europaikos, der im 14. Jahrhundert nach Italien drang, wurde allmählich unser Europäer. Ihren Namen empfingen also die bis dahin mit sich nur unzulänglich vertrauten Einwohner der Überreste des Römischen Reiches im Westen von Ostrom aus Byzanz. Das Römische Reich verband einst Asien, Afrika und Europa. Die Erinnerung daran hat sich nie verloren. Auch die sogenannten Europäer hofften lange Zeit, rund ums Mittelmeer wieder zu einer den Orient und Okzident zusammenfassenden Ordnung zu gelangen. Frank-Lothar Kroll will diesen hellenistischen, römischen und mittelmeerischen Osten aus den „europäischen Erfahrungswelten“ mit ihren „Bewußtseinshorizonten“ möglichst herausgehalten wissen in seinem Versuch, sich einer „integralen europäischen Geschichte“ anzunähern, den er unter die Devise: Identität und Differenz stellt. Er engt von vornherein die „kollektive Erinnerungsgemeinschaft“ in einem „europäischen Gedächtnisraum“ erheblich ein. Bezeichnenderweise kommt bei ihm Italien kaum vor, das in der Mitte zwischen Ost und West gelegen, immer bemüht blieb, im gesamten Mittelmeer als gestaltende Kraft anerkannt zu werden. 

Frank-Lothar Kroll sieht in der EU den Kern eines Europas, von dem er gar nicht zu sagen vermag, wo es anfängt und aufhört. Immerhin weiß er, daß die Europäische Union als politische Gemeinschaft nicht das Ziel einer integralen europäischen Geschichte war. Große europäische Staatsmänner wie Metternich und Bismarck mißtrauten jedem, der allzu beschwingt von Europa sprach, weil sie von ihm vermuteten, er wolle täuschen und betrügen und seine Interessen feierlich-festlich verbrämen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Europa zu einer wirtschaftlichen und politischen Ordnungsidee, die in Übereinstimmung mit den USA weit über Westeuropa hinausreichte. Das sogenannte Europa wurde Teil der „westlichen Wertegemeinschaft“ sowie der transatlantischen Verteidigungsgemeinschaft, der Nato. Wahre Europäer konnten nur die Westeuropäer sein, die ihre sittliche Legitimation daraus bezogen, zum Westen zu gehören. Europa ging im Westen auf und unter, dem Reich der Freiheit, das immer bereit sein mußte, sich gegen die Anschläge aus dem Osten zu wehren. „Die Verwestlichung“ als sittliche, von allen Übeln erlösende politische Forderung ersetzte die fehlende geistige Legitimation eines zu vereinheitlichenden Europas.

Das Christentum, die Aufklärung und eine Bürgergesellschaft sollen den Völkern im neuen Europa und im neuen Westen, wie Frank-Lothar Kroll in Übereinstimmung mit vielen europapolitischen Sinnstiftern und Orientierungshelfern versichert, eine europäische Identität vermittelt haben. „Das Christentum“ spaltete sich in Konfessionen und Gesinnungsgemeinschaften auf. Was das Christentum ausmacht, dürfte unter Europäern mittlerweile sehr schwer zu erfragen sein. Die Aufklärung hatte es immer nur im Plural gegeben. Fast alle Aufklärer befehdeten einander. Welche Aufklärung soll es denn sein, die „den Europäer“ ermöglicht? Und die Bürgergesellschaft ist ein schallendes Nichts, da es keine Bürger mehr gibt und Staatsbürger an den Staat und damit an Differenzen erinnern, die überwunden werden sollen. Die Bürgergesellschaft als Ausdruck der Mitsprache des Einzelnen im demokratisch organisierten Gemeinwesen, das den Staat ersetzt, hat nichts mehr mit der Wirklichkeit des politischen Systems zu tun, das von Parteien und Gruppen strukturiert wird, die die sogenannte Öffentlichkeit nach Bedarf herstellen oder einschränken. Frank-Lothar Kroll wiederholt nur Redensarten, die in der Präambel des Lissabonner Vertrages stehen.

Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, wenn er dem verbeamteten Historiker und Professor die Rolle der „intellektuellen Deutungsinstanz“ erhalten möchte. Es geht nicht um Forschung oder Wissenschaft, sondern um Gefühle und Erlebnisse, vorzugsweise im Zusammenhang mit Redensarten, die endlich „das lebenspraktische Europa der Bürger“ zur Wirklichkeit machen, die sich gemeinsam bestätigen, wie schön es ist, auf der Welt zu sein, in Europa und dem Westen. Hier herrschen die Freiheit und das Glück, welches jene ermöglicht, sobald die Freiheit nicht in Willkür ausartet, sondern in der Gebundenheit an Zwecke das Allgemeinwohl nicht aus dem Auge verliert. Wenn es um Leben und Tod, um die Existenz der Europäer geht, bewährt sich die geregelte Freiheit als „Freiheit in verantwortungsvoller Gebundenheit“, auch wenn sie mit unvermeidlichen Einschränkungen persönlicher Freiheits- und Grundrechte verquickt ist, wie im „Gefolge der Corona-Pandemie“. Die damals notwendigen Maßnahmen und Verordnungen umsichtiger Regierungen „können durchaus als moderne Anverwandlungen dieser spezifischen Variante einer ‘positiven Freiheit in der Gebundenheit‘ gelten. Vielleicht gewinnen sie in Zukunft wieder stärker an Gewicht“. Schöner hätte es auch das Bundespresseamt nicht ausdrücken können.

Die wehrhafte Freiheit in der Gebundenheit, in der westlichen Wertegemeinschaft verwirklicht mit „Interdependenzen“, also Abhängigkeiten, ist gerade jetzt so wertvoll wie nie, weil aus Rußland finstere Gefahren für die europäischen Lebensformen drohen. Der Westen und die Nato sind alternativlos, wenn es um unsere Identität geht, die gerade in der Ukraine ungemeine Begeisterung weckt, so daß regionale Sonderformen oder Differenzen ganz unerheblich werden. Wie ein Vulkan vor dem Ausbruch brodelt es in diesem Streiter für die höchsten Güter des Westens, wenn er auf Rußland zu sprechen kommt. Er muß immer wieder von diesem Feind reden, der „uns“ erst richtig zu einer Solidar- und Kampfgemeinschaft zusammenschweißt, die mit der Kraft ihrer Herzen an der Seite aller Mühseligen und Bedrängten steht. Von den USA ist nie die Rede. Der Staatsbeamte wird als intellektueller Deuter mannigfacher Geschehen im aktuellen Erlebnisraum vorbildlich seiner Aufgabe gerecht, geregelter Freiheit, die der Wissenschaftlichkeit erst zu ihrer sozialen Relevanz verhilft, mit moralischer Aufrüstung Substanz zu verleihen und Nachdenklichkeit allerseits zu fördern. Sein Buch ist unbedingt preisverdächtig. 

Frank-Lothar Kroll: Identität und Differenz. Das Problem einer integralen Geschichte. BeBra Wissenschaftsverlag, Berlin 2023, gebunden, 269 Seiten, 26 Euro