Nicht nur im Blick auf die vermeintlich „letzte Generation“ ist zu fragen, wie es mit dem Geschichtsbild der bundesdeutschen Gesellschaft bestellt ist. Hitler, dank Putin auch wieder Stalin, die Schreckensbilder der KZ, dazu der Mauerfall sind in Schule und Medien täglich präsent. Zum Geschichtsinventar gehören immerhin Namen wie Adenauer und Brandt, Honecker und Kohl. Welchen Zeitgenossen sind jedoch Namen wie Julius Leber, Herbert Wehner oder Rainer Barzel ein Begriff? Dazu die tiefer liegende Frage: Wie kommen wir in der postnationalen Gesellschaft der erweiterten Bundesrepublik zu einem Verständnis des – manifest im Ukraine-Krieg oder in Chinas Aufstieg zur Weltmacht – in die Gegenwart hineinragenden vergangenen Jahrhunderts?
An der Biographie Willy Brandts, geboren 1913 am Vorabend des Ersten Weltkriegs, gestorben am 8. Oktober 1992, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, wird das Geschichtsdrama des 20. Jahrhunderts anschaulich. Den Blick öffnet die Biographie des einstigen Zeit-Journalisten Gunter Hofmann. Dem Buch vorangestellt sind zwei Zitate des „Sozialisten, Kanzlers und Patrioten“ Willy Brandt. Das erste stammt aus dessen Autobiographie „Links und frei“ (1982): „Wir ließen uns nicht ins Ungeheuerliche verstricken, doch im Laufe weniger Jahre wurde mir immer klarer, daß man auch als deutscher Antinazi keinen Grund hatte, sich aufs hohe Roß zu setzen.“ Das zweite ist ein Exzerpt aus einer Bundestagsrede des Alterspräsidenten Brandt vom 1. September 1989: „Nicht notwendigerweise hat es so kommen müssen, wie es 1933 und 1939 gekommen ist. (...)Ein mündiges Volk darf die Macht nicht in die Hände von Verrückten und Verbrechern fallen lassen.“
Unter aussagestarken Überschriften rekonstruiert der Autor Brandts Vita. „Unbehaust“ waren die Lübecker Familienverhältnisse, in denen der außerehelich geborene Herbert Frahm – der Name diente Adenauer noch nach dem 13. August 1961 als Wahlkampfpolemik – heranwuchs. Heimat war die politisch gespaltene Arbeiterbewegung. Den weiteren Lebensweg definieren Überschriften wie „Julius Leber und Adam von Trott“, „Radikal und auf der richtigen Seite“, „Unsägliche Schande legte sich über den deutschen Namen. Ich ahnte, daß uns diese Schande lange nicht verlassen würde“. Es folgt „Verbrecher und andere Deutsche“ – Titel des Buches, das Brandt 1946 als Beobachter des Kriegsverbrecherprozesses in Nürnberg in norwegischer Sprache verfaßte. Ungeachtet allen Entsetzens und begründeter Vorbehalte – selbst gegenüber seiner nur unsicheres „Wissen“ bekundenden Familie in Lübeck – ist es getragen von Hochachtung für den 20. Juli und von Hoffnung auf ein kulturell erneuertes, ungeteiltes Deutschland. Der Weg aus Brandts „zweitem Vaterland“ Norwegen führte nach Berlin, als „junger Mann“ Ernst Reuters in das Amt des Regierenden Bürgermeisters, von Berlin nach Bonn ins Palais Schaumburg.
Sorgfältig werden die Hintergründe, Ziele und Grenzen der nach dem Mauerbau aus Not und Einsicht geborenen „Ostpolitik“ dargestellt. Schon vor dem Mauerfall mahnte der Europäer und Weltbürger Brandt, die „deutschen Dinge“ nicht aus dem Blick zu verlieren. Erläutert wird im Kapitel über Mauerfall und deutsche Einheit („Der ‘Vaterlandsverräter’ als Patriot“) Willy Brandts wegweisender Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“
Nicht nur psychologisch erhellend ist die Darstellung von Brandts Verhältnis zu dem „anderen, ‘anderen’ Deutschen“ Herbert Wehner sowie zu Helmut Schmidt. Zuweilen ist das Buch zu weitschweifig geraten. Ironie – angebracht bezüglich der SS-Vergangenheit von Günter Grass sowie des mit Beate Klarsfeld gegen den „Nazi Kiesinger“ verbündeten Johannes Agnoli – ist Fehlanzeige. Hinzu kommen Unschärfen: Der im August 1962 an der Mauer verblutete 18jährige hieß Peter Fechter, nicht „Fechner“. An anderer Stelle geht Hofmann der verleumderischen DDR-Kampagne gegen Heinrich Lübke auf den Leim. Mieczyslaw Moczar, Initiator der 1968 in Polen grassierenden Antisemitismus-Kampagne, war kein „Nationalkonservativer“, sondern ein nationalistischer Kommunist.
Von derlei Monita abgesehen, ist das Buch zu empfehlen. Dies gilt auch für Hofmanns Kritik an Timothy Snyder oder Simon Strauß, die ex post vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges die gesamte Bahr-Brandtsche Ostpolitik als „Appeasement“ in Frage stellen.
Gunter Hofmann: Willy Brandt. Sozialist – Kanzler – Patriot. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, München 2023, gebunden, 517 Seiten, 35 Euro