© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/23 / 24. März 2023

Der Irrwisch und der Luftikus
Zu den 100. Geburtstagen von Jacob Taubes und Nicolaus Sombart: Zwei erstklassige Biographien bieten eine Entdeckungsreise durch die Geistes-geschichte des 20. Jahrhunderts
Wolfgang Müller

Vom Geburtsjahr 1923 abgesehen, scheint den jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes und den deutschen Kultursoziologen Nicolaus Sombart wenig zu verbinden. Zu verschieden sind sie nach Herkunft und Lebensweg. Hier der Sprößling eines in Galizien bis ins späte Mittelalter zurückzuverfolgenden Rabbi-nergeschlechts, dort der Sohn eines weltberühmten deutschen Mandarins, des Nationalökonomen Werner Sombart. Während Taubes, der seit 1937 in der neutralen Schweiz aufwächst, im Frühjahr 1945 an der Universität Zürich über letzte Dinge reflektiert, ein Studium, dem seine Doktorarbeit – das einzige Buch, das er je veröffentlichen wird – über die „Abendländische Eschatologie“ entspringt, erlebt der Obergefreite Sombart eine wahre Endzeit, die des Dritten Reiches, im Kurland-Kessel, aus dem er nur mit knapper Not entkommt. 

Der junge Sombart, der 1951 bei Alfred Weber in Heidelberg mit einer ungedruckten Arbeit über den Pariser Sozialutopisten Henri de Saint-Simon promoviert, die sich anschließenden Habilitationsversuche nach mehreren Anläufen aufgebend, erfüllt die in ihn gesetzte Erwartung nicht, ein Gelehrter vom Rang seines Vaters zu werden. Stattdessen fristet er seit 1954 eine von ihm oft als parasitäre Ansiedlung auf einem lebenden Leichnam empfundene Existenz als Kultursekretär des Europarats in Straßburg. 

Währenddessen macht der nicht habilitierte, von Kollegen gern als Scharlatan denunzierte, weil intime Vertrautheit mit dem abendländischen Bildungskanon notorisch vortäuschende Taubes in den Zentren der transatlantischen Hochkultur, in New York und Jerusalem, in Princeton und Harvard, eine glänzende akademische Karriere, die ihn 1961 an die Freie Universität in West-Berlin führt. Dort leitet er gleich zwei Institute, für Judaistik und für Hermeneutik, und ist mit einem märchenhaften Jahresgehalt von 66.000 D-Mark der wohl bestbezahlte Professor unter den geisteswissenschaftlichen Ordinarien der Bonner Republik. 

Doch erstreckt sich sein Einfluß weit über den Elfenbeinturm hinaus: Als üppig dotierter Berater des Suhrkamp-Verlages, als Knotenpunkt internationaler Netzwerke, als Tagungszampano und Gastprofessoren über den großen Teich an die FU ziehender intellektueller Zwischenhändler, der mithilft, angloamerikanische Theorien und Ideologien der westdeutschen Öffentlichkeit zu vermitteln, ohne selbst allzu produktiv zu sein. Den Höhepunkt dieser Wirksamkeit erreicht Taubes als Berliner Spiritus rector der Studentenrebellion, die seit 1968 Hochschulen zu Motoren der Gesellschaftsveränderung umrüsten will.

 Sombart hingegen kehrt erst nach der Pensionierung 1984 an die Universität zurück,  als Lehrbeauftragter an die FU Berlin, wo er mit Taubes im Wintersemester 1985/86, ein halbes Jahr nach dem Tod des 97jährigen, in der Bundesrepublik als vermeintlicher „Kronjurist“ Adolf Hitlers verfemten Staatsrechtlers, ein mittlerweile legendäres Seminar zur „Politischen Theologie Carl Schmitts“ bestreitet. Prominent wird Sombart indes nicht als Wissenschaftler, sondern aufgrund seiner Erinnerungen an den während der NS-Diktatur kaum gestörten Lebensstil, den seine Eltern in ihrer Grunewald-Villa zelebrieren („Jugend in Berlin“, 1984), durch eigenwillig-anregende bis grotesk-abwegige psychohistorische Deutungen der Geschichte des deutschen Kaiserreichs („Nachdenken über Deutschland“, 1987; „Die deutschen Männer und ihre Feinde“, 1991), vor allem aber durch die Einrichtung seines „Salons“, einer sonntäglichen Teerunde, wo der alternde Lebemann der provinziellen West-Berliner Nachkriegsgesellschaft etwas von jener reichsdeutschen großbürgerlichen Kultur vorlebt, als deren letzter Zeuge er sich fühlt.       

Die Biographien, die der Ideenhistoriker Jerry Z. Muller (Washington D. C.) und der Berliner Kultursoziologe Günter Erbe pünktlich zu den 100. Geburtstagen von Taubes und Sombart als „Baedeker durch die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts“ vorlegen, stiften zwischen dem „messianischen Irrwisch“ (Armin Mohler) und dem „hedonistischen Luftikus“ (Erbe) jetzt Beziehungen, die über ihre punktuelle Begegnung als FU-Dozenten vielfach hinausweisen. Davon zeugt schon ihr keineswegs dem Zufall geschuldetes gemeinsames Seminar zu Schmitt. Sombart war so etwas wie dessen Ziehsohn und verharrte zeitlebens, schwankend zwischen Verehrung und Verachtung, im geistigen Bannkreis seines Mentors. Taubes las Schmitts „Politische Theologie“ (1922) als Studienanfänger und erlag als Jude, dessen Familie Opfer im Holocaust zu beklagen hatte, der Faszination dieses „Nazi“-Denkers. Dem er, lange ersehnt, 1978 endlich „Aug’ in Aug’“ in dessen innerem Exil in Plettenberg die Aufwartung machte. Schmitt war es, der ihm, der als junger Dozent davon träumte, ein zweiter Hegel oder ein Paulus redivivus zu werden, den Sinn für „die großen Themen“ der durch die Spannungen zwischen Politik und Religion vorangetriebenen Weltgeschichte schärfte.

Das Urerlebnis für Taubes, eigentlich das jedes religiösen Menschen, sei, wie der hier in  jüdischer und christlicher Religionsgeschichte brillierende Muller ausführt, die Erfahrung „fundamentaler Fremdheit“ im Diesseits gewesen. In den synkretistischen Lehren frühmittelalterlicher Gnostiker habe der eher zum „Seher“ als zum Religionswissenschaftler taugende Taubes dafür Bestätigung gesucht. Demnach schuf ein böser Gott diese Welt, mit der sich der wissende, im Überweltlichen beheimatete Pneumatiker nicht einlassen dürfe, um sich nicht ins Böse zu verstricken. Ratsamer sei es, mit ihrem Untergang zu rechnen.

Diese genuin apokalyptische Position, seit den 1980ern auch von der Partei der Grünen bezogen, heute überdies von diversen klimareligiösen Endzeit-Sekten sowie den gefährlicheren, auf „Klimaneutralität“ versessenen Berliner und Brüsseler Öko-Dikatoren radikalisiert, wohnt allen neuzeitlichen politischen Heilslehren inne. Von denen im Zeitalter der Extreme Karl Marx’ apokalyptische Verheißung einer klassenlosen Gesellschaft die stärkste Anziehungs- und Durchschlagkraft entfaltete. Taubes, wie Schmitt kein Demokrat und die liberal-kapitalistische Ordnung des Westens als „System der Entmenschlichung“ ablehnend, wäre daher zum marxistischen Revolutionär prädestiniert gewesen. Er beschied sich jedoch nach den von Muller akribisch rekonstruierten, nur ex post urkomische Effekte erzielenden bitteren Erfahrungen mit seinem roten Anhang, Rudi Dutschke & Co., mit der bis zu seinem Tod 1987 allerdings rasant abschmelzenden Hoffnung, dem „neuen Menschen“ zumindest spirituell den Weg bahnen zu können.

Gleichfalls der apokalyptischen Denkfigur verpflichtet, inspiriert von Frühsozialisten wie Charles Fourier, setzte der religiös unmusikalische Erotomane Sombart auf die sexuelle Revolution, um das schlechte Bestehende, das Patriarchat zu überwinden. Gender-Ideologie und die grün-feministische Außenpolitik vorwegnehmend, wie Erbe maliziös anmerkt, propagiert Sombart ein neues androgynes Selbstverständnis des Menschen. Wenn es in der Zukunftsgesellschaft keine Männer und Frauen, sondern allein noch ihre Zweigeschlechtlichkeit kultivierende, die weiblichen Anteile freilich übergewichtende Menschen gebe, breche Fouriers „Zeitalter der Harmonie“ an, das der derart glatt gebügelten Menschheit Weltstaat und Weltfrieden beschere. 

Wenn vor allem Sombarts Utopie dem Fiebertraum eines Generalstäblers aus der Eisenbahnabteilung gleicht, dem die Fahrpläne durcheinandergeraten sind, so ist doch unbestreitbar, daß die Biographien von Taubes und Nico, dem kleinen Sohn des großen Werner Sombart, das bis zum Mauerfall bewahrte Weltniveau einer heute ins Sagenhafte entrückten akademischen Kultur vergegenwärtigen, die die Folgen der Bologna-Reform von 1998 als einen auf der Fourier-Skala ablesbaren Rückfall ins Zeitalter der Barbarei, wenn nicht ins Stadium der Wildheit erscheinen lassen. 

Jerry Z. Muller: Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes. Jüdischer Verlag, Berlin 2023, gebunden, 927 Seiten, Abbildungen, 58 Euro

Günter Erbe: Nicolaus Sombart - Utopist, Libertin, Dandy. Böhlau Verlag, Köln 2023, gebunden, 319 Seiten, Abbildungen, 45 Euro