Sie stellen längst die Mehrheit der Deutschen, werden aber stigmatisiert und diskriminiert: die Dicken. Übergewichtigkeit wird immer mehr zum Normalzustand. Die Hälfte der Frauen – gemessen am Body-Mass-Index (BMI) – gilt als übergewichtig, bei den Männern sind es gar zwei Drittel. Und jeweils ein Viertel beider Geschlechter ist fettleibig. Und das in einer Gesellschaft, in der Körperfett nach gängigen Vorstellungen von Willensschwäche und Kontrollverlust zeugen.
Schwer lastet der psychische Druck auf den dicken Männern, auch wenn sie es sich oft nicht anmerken lassen und der „postindustrielle Vollbartträger genüßlich sein eigens gebrautes Craft-Beer säuft und auf neoliberale Körpernormen scheißt“, wie eine Journalistin schreibt. „Wampe, keine Muskeln, schlaffe Haut“ – warum finden sich Männer mit der „Attraktivität einer runzligen Kartoffel“ trotzdem unwiderstehlich? wundert sich eine Kommentatorin der Hamburger Morgenpost – Bodyshaming! – , um zu der Erkenntnis zu kommen, daß es der Erfolg im Leben ist, der Männer in den Augen der Frauen sexy macht. Schließlich steht der männliche Bauch seit Jahrtausenden für Wohlstand und Luxus.
Der „Curvy Men“ Kalender ist weniger beliebt
In der Mode werden die „Curvy Women“ bejubelt, fast jede weibliche Körperform gelte heute als akzeptabel oder sogar vorbildlich, nur nicht der dicke Mann, schreibt das Zeit-Magazin und widmet dem „Kurvenkönig“ eine ganze Fotostrecke. Allerdings wissen die Hamburger auch: Die von ihnen Abgebildeten wirken, weil ihnen die Kleidung auf den Leib geschnitten wurde – und welcher Dicke kann sich das leisten?
Was aber, wenn der Wohlbeleibte nicht einmal Erfolg vorweisen kann, wenn er einfach der „dicke Mann von nebenan“ ist, wie ihn die Kölner Band Die Filue besingt? Gilt noch, daß ein „echter Mann“ seinen Körper verlottern lassen darf? Es gibt nicht wenige, die Doppelkinn, Bierbauch und Rückenfell im Sommer an den Stränden mit selbstverständlichem Stolz zu Schau tragen – und sich insgeheim schämen. Umfragen zufolge ist eine Mehrheit der Männer unzufrieden mit ihrem Körper. Sie stören sich vor allem an ihrem Bauch. „Sie nagen immer an etwas, sei’s an ihrem Dicksein oder an einem Hühnerbein“, reimt der Liedpoet Konstantin Wecker in einem Gedicht. Die Zahl von Männern mit Eßstörungen ist gestiegen.
Die obsessive Beschäftigung mit dem Körper kann sogar in eine Körperwahrnehmungsstörung münden, die psychologisch als „Muskeldysmorphie“ oder auch als „Adonis-Komplex“ bezeichnet wird, also eine Art umgekehrte Magersucht, bei der sich die Männer ständig Sorgen machen, nicht muskulös genug zu sein, faßt Jan Beson in seiner Dissertation „Männer und Muskeln. Über die soziale Konstruktion des männlichen Körperideals“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf wissenschaftliche Erkenntnisse zusammen.
Sollen Männer etwas gegen ihr Dicksein tun, oder liegt es einfach an den Genen? 400 sind bisher bekannt, die etwas mit der Neigung zum Übergewicht zu tun haben könnten. Die WHO jedenfalls empfiehlt, weniger Kalorien zu sich zu nehmen und mehr Sport zu treiben – wie einfallsreich. Aber so einfach ist es nicht. Neue Forschungsergebnisse lassen vermuten, daß Bewegung allein kaum dauerhaft zur Fettreduzierung führt: Der Stoffwechsel wurde im Laufe der Evolution nicht dafür gemacht, „strandtaugliche Bikinifiguren zu schaffen“, sondern den enormen Energieverbrauch des Menschen – besonders groß ist der des Gehirns – für eventuelle Engpässe mit Fett abzusichern, so der Anthropologe Hermann Pontzer. „Wir sind darauf geeicht, ständig aktiv zu sein, etwa Kilometer um Kilometer zu laufen, Lasten zu tragen, Eßbares auszubuddeln.“
Seit Jahren gibt es eine „Body-Positivity“-Bewegung mit dem Ziel, für ein gutes Verhältnis zum eigenen Körper zu werben, ganz unabhängig davon, wie er aussieht. Aber auch daran gibt es Kritik, weil derartige Begriffe die Aufmerksamkeit auf Diskriminierung, Beleidigung und Ausgrenzung Dicker lenken, statt das Gewicht als Diskriminierungsmerkmal im Gesetz zu verankern.
Aber eigentlich bedarf es dessen nicht, denn gerade Frauen, und darauf kommt es den meisten dicken Männern an, haben im realen Leben mit Männern jenseits der Schönheitsnorm gar kein Problem. Nicht nur das Wohlstandsbäuchlein triumphiert über so manche Lebenslüge der Bodybuilderszene. Ein leichtes Übergewicht erhöht sogar die Lebenserwartung, haben Studien in den USA und in Dänemark gezeigt. Der Ernährungsforscher David Raubenheimer rät neben einer simplen Küche mit vielen Ballaststoffen und ausreichend Protein: „nicht rechnen oder zuviel nachdenken“. Dazu noch ausreichend Selbstbewußtsein, um die Lobby der Schlankheits- und Gesundheitsindustrie einfach zu ignorieren. Der dicke Mann ist zweifellos ein Zukunftsmodell.