Nero Claudius Caesar Drusus Germanicus alias Lucius Domitius Ahenobarbus war ein Ururenkel des ersten römischen Kaisers Augustus und regierte das Imperium Romanum von 54 bis 68 n. Chr. Aufgrund der extrem negativen Charakterisierung Neros in den Hauptquellen zu seiner Biographie aus der Feder von Publius Cornelius Tacitus, Gaius Suetonius Tranquillus und Lucius Cassius Dio galt der fünfte und letzte Kaiser der julisch-claudischen Dynastie schon bald als feister Neurotiker, verweichlichter Versager, Ausbund an Triebhaftigkeit, Muttermörder, Brandstifter und Christenverfolger sowie exzentrischer Tyrann mit plebejischen Attitüden und lachhaften künstlerischen Ambitionen, also als prototypisches Scheusal und nichtswürdiger Antikaiser par excellence. Wobei man im Mittelalter noch ein paar Mythen hinzuerfand, wie die haarsträubende Mär von Neros Schwangerschaft, welche mit der Geburt einer großen häßlichen Kröte endete … Und in der Gegenwart ist „Nero“ sogar zum pejorativen Markenzeichen geworden. So heißt das meistverkaufte Programm für das Brennen von CDs und DVDs sinnigerweise „Nero Burning ROM“.
Gleichzeitig gab es in den letzten Jahrzehnten einige Versuche, Nero zu rehabilitieren. Beispielsweise veröffentlichte der für seine provokanten Thesen bekannte italienische Journalist Massimo Fini 1994 ein Buch mit dem Titel „Nero. Zweitausend Jahre Verleumdung. Die andere Biographie.“
In diese Richtung zielt nun auch das Werk „Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit“, welches der wissenschaftliche Bibliothekar für Altertumswissenschaften an der Universität Konstanz, Alexander Bätz, jetzt vorgelegt hat. Darin versucht der Autor genau das, was die meisten übrigen Historiker gar nicht oder in deutlich zu geringem Umfang taten: Nero unvoreingenommen vor dem Hintergrund seiner Zeit zu betrachten, strikte Quellenkritik an den Aussagen der dem Patrizierstand entstammenden Biographen Tacitus, Sueton und Cassius Dio zu üben und alternative schriftliche sowie auch archäologische Zeugnisse heranzuziehen. Dadurch erhält der Untertitel des Buches einen Doppelsinn: Während Nero selbst zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit pendelte, richtete die Geschichtswissenschaft bisher entschieden zu viel Aufmerksamkeit auf das Irrationale an dem Kaiser, was zu Lasten der Wahrnehmung der römischen Realität zur Mitte des 1. Jahrhunderts ging.
Die ersten fünf Regierungsjahre galten sogar als glückliche Zeit
Zu selbiger gehörten die von Bätz kenntnisreich beschriebenen gesellschaftlichen Strukturen, in die Nero am 15. Dezember 37 hineingeboren wurde und die nicht zuletzt dadurch geprägt waren, daß es mit Tiberius und Neros Onkel Caligula bereits zwei vorwiegend negativ wahrgenommene Imperatoren vor ihm gegeben hatte und deshalb inzwischen ein erhebliches Grundmißtrauen gegenüber dem Mann auf dem Thron herrschte. Dennoch genoß der junge Nero, der am 13. Oktober 54 nach dem Tode seines Stiefvaters Claudius zum Kaiser avancierte, zunächst weitestgehende Akzeptanz. Er sorgte für Brot und Spiele, enthielt sich größerer Interventionen in senatorische Angelegenheiten und stand ganz offensichtlich unter dem mäßigenden Einfluß seines Mentors Lucius Annaeus Seneca.
Daher galten die ersten fünf Regierungsjahre Neros, das Quinquennium Neronis, als glückliche Zeit für Rom. Und nachdem er dann am 9. oder 11. Juni 68 angesichts der Verschwörung des Servius Sulpicius Galba und der vom Senat angestrengten Verfemung als Feind des Volkes mit Hilfe seines Sekretärs Epaphroditos „freiwillig“ aus dem Leben geschieden war, zeigten sich auch längst nicht alle Römer bereit, die ihm zugedachte damnatio memoriae (Verdammung des Andenkens) mitzutragen. Was unter anderem an den 2,2 Milliarden Sesterzen lag, die Nero für öffentliche Belustigungen und wohltätige Zwecke zur Verfügung gestellt hatte. Ebenfalls eher als Ruhmesblatt denn als Schandtat angesehen werden muß das gelungene Krisenmanagement des Kaisers nach dem Großen Brand von Rom im Juli 64.
Aber da war eben auch die andere Seite, welche die Zahl von Neros Widersachern anwachsen ließ, bis dann 68 die kritische Masse für einen Sturz erreicht war. Den ersten, noch eher harmlosen Ausschweifungen zu Beginn seiner Herrschaft folgte ab dem Jahre 59 eine Entfesselung und Radikalisierung, die sich in üblen Exzessen, Verschwendungssucht, Mordaufträgen und Repressalien gegen die traditionellen Eliten, provokanten Grenzüberschreitungen aller Art und Auftritten von vollendeter Lächerlichkeit äußerte. Beispielsweise mimte Nero bei seinem Griechenlandbesuch von 66/67 den Olympiasieger, obwohl er im Wettkampf kläglich versagt hatte – ein „Bonus“ von einer Million Sesterzen an die Kampfrichter machte diesen schalen „Triumph“ möglich.
Für Bätz zeugen solche Episoden allerdings auch von einem Umstand, der beim Blick auf Neros problematisches Verhalten keineswegs vergessen werden darf: Es gab stets Personen, die ihn in seinem Treiben bestärkten, was sogar für Senatoren galt. Insofern war der Sturz des Kaisers nicht automatisch vorprogrammiert, sondern eine Folge des überbordenden Ehrgeizes von Personen, die fälschlicherweise glaubten, besser zum Herrscher zu taugen. Bätz’ Versuch einer ausgewogeneren Sicht auf Nero ist rundum gelungen: Die Argumentation kommt faktenbasiert und plausibel daher, es gibt einen ordentlichen Anmerkungsapparat, der Schreibstil macht die Lektüre ebenso angenehm wie flüssig, und die Ausstattung des Buches mit instruktiven Abbildungen und Karten rundet das Ganze ab. So müssen moderne Biographien aussehen, wenn sie Maßstäbe setzen und ihr Geld wert sein wollen!
Alexander Bätz: Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, gebunden, 576 Seiten, 34 Euro