Man muß schon was aushalten können, wenn man Filme von Quentin Tarantino anschaut. Nicht nur in Anbetracht der grotesken Gewaltorgien, in denen viele seiner Filme kulminieren und in denen das Blut auch gern mal so doll spritzen darf, daß sogar Hartgesottene sich kurz abwenden; sondern auch, weil der Filmemacher, der am 27. März sechzig Jahre alt wird, dem Zuschauer ans Herz gewachsene Helden gerne mal über die Klinge springen läßt. „Am Ende sind immer alle tot.“ Dieser kindlich-banal klingende Satz charakterisiert die Werke des Filmkünstlers treffender als jede komplizierte filmwissenschaftliche Analyse. Auf die würde der 1963 in Knoxville/Tennessee zur Welt Gekommene, der sich das Filmemachen selbst beibrachte, vermutlich sowieso pfeifen.
Seine Jugend stellt man sich am besten vor wie die des Helden in Steven Spielbergs neuem Film „Die Fabelmans“ (JF 11/23): Da ist dieser total filmverrückte Junge namens Sam, der vielleicht auch Quentin hätte heißen können und dessen große Leidenschaft das Kino ist. Nur daß Tarantino ein Kind der Sechziger ist, während Kollege Spielberg seine prägenden Erfahrungen, auf denen der Film basiert, in den fünfziger Jahren hatte. Dennoch: Die Lebensläufe ähneln sich verblüffend. Beide sind fern von Los Angeles zur Welt gekommen und landeten dann doch in der Stadt der Träume, wo der magische Sog, den die Traumfabrik ausübte, unwiderstehlich wurde: Mit 16 war Tarantino überzeugt, er müsse zum Film. An der James-Best-Schauspielschule lernte er Craig Hamann kennen – eine Bekanntschaft mit Folgen: Zusammen verfaßten die beiden cineastisch Begeisterbaren ein Skript mit dem Titel „My Best Friend’s Birthday“. Das Werk blieb unvollendet. 1987 trat Tarantino eine Stelle als Aushilfskraft in einer Videothek an. Es wirkte sich aus, als hätte man einen Fisch ins Wasser gesetzt. Der junge Mann versuchte sich erneut im Drehbuchschreiben. Die drei Projekte, die er verfolgte, ließen sich mangels finanzieller Mittel aber nicht verwirklichen, jedenfalls nicht von ihm. Später nahmen sich andere Regisseure ihrer an: „True Romance“ (1993) inszenierte Tony Scott, „Natural Born Killers“ (1994) Oliver Stone und den Vampirfilm „From Dusk Till Dawn“ (1996) Robert Rodriguez.
Kontroverse über die Ästhetik von Gewalt im zeitgenössischen Kino
Erstmals selbst Regie führte Tarantino bei „Reservoir Dogs“ (1992). Die Geschichte eines mißglückten Raubüberfalls, bei dem fast alle Gangster am Ende ins Gras beißen, weist bereits ein Kennzeichen auf, das später typisch wurde für seine Filme: blutige Gewalt. Aber auch die Absage an lineares Erzählen findet sich bereits in dem Frühwerk: Nicht der eigentliche Überfall steht im Blickpunkt dieser ersten Regiearbeit, sondern das, was davor und danach geschieht. Auf dem Sundance Film Festival, der Spielwiese für unorthodoxe Filmkünstler, stellte das junge Talent sein Erstlingswerk vor und stieg auf wie ein Komet, wurde zur Leuchtgranate des unabhängigen amerikanischen Kinos.
Zum entscheidenden Jahr in Tarantinos Karriere wurde 1994. Denn mit „Pulp Fiction“ und „Natural Born Killers“, die binnen weniger Wochen in die Kinos kamen und beide mit Gewaltexzessen schockierten, löste der Regisseur auch hierzulande eine Kontroverse über die Ästhetik von Gewalt im zeitgenössischen amerikanischen Kino aus. Die Mehrheit fand: Paßt schon. „Pulp Fiction“ genießt bis heute Kultstatus und wurde bei den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Tarantinos Drehbuch gewann außerdem den Oscar. Schräge, ausufernde Dialoge, eine seltsame Verschachtelung der miteinander verknüpften Handlungsstränge und Tabubrüche bei der Darstellung von Perversion, Folter und Gewalt machten den Film über einen Boxer (Bruce Willis), ein Killerduo (John Travolta und Samuel L. Jackson) und ein Gaunerpärchen, deren Wege sich im Verlauf der Geschichte kreuzen, zum Gesprächsstoff in Kultursendungen und Feuilletons. Außerdem garnierte der Filmverrückte das Werk mit Zitaten und Verweisen – ein Fest für Cineasten.
Episodisches Erzählen prägte auch den weniger bekannten nächsten Film „Four Rooms“ (1995), eine Gemeinschaftsproduktion mit Allison Anders, Alexandre Rockwell und Robert Rodriguez. Tarantino steuerte die Episode „The Man from Hollywood“ bei.
Etwas ruhiger ging es dann in „Jackie Brown“ (1997) nach Elmore Leonards Roman „Rum Punch“ zu. Die Gangsterposse erinnert eher an die „Ocean’s“-Reihe mit George Clooney als Kopf einer Ganovenbande, die genial ausgetüftelte Coups landet, als an die Gewalteruptionen, die der Regisseur zuvor auf die Leinwand gebracht hatte. Die titelgebende Hauptfigur ist eine 44jährige schwarze Stewardeß, die für kriminelle Auftraggeber Devisen und Drogen von Mexiko in die USA schmuggelt. Durch Verbrecher und Polizei gleichermaßen unter Druck geraten, gelingt es ihr, alle ihre Widersacher auszutricksen und am Ende mit einer fetten Beute abzudampfen. Weitgehend vergessen wie John Travolta vor seinem furiosen Auftritt in „Pulp Fiction“ war Hauptdarstellerin Pam Grier, eine Kultfigur des schwarzen Kinos der siebziger Jahre. Sie wurde anschließend von der Kritik gefeiert, etwas, was Darstellern unter der Regie des zweifachen Oscar-Preisträgers häufiger widerfährt.
Mit dem Gangsterkrimi „Kill Bill“ (2003/2004) näherte der Filmakrobat, dem der Spiegel „starke Macho-Instinkte“ bescheinigte, sich wieder der Gewaltästhetik seiner früheren Werke an. In der mit Elementen des Kampfkunstgenres und japanischer Samurai-Filme angereicherten Rachegeschichte spielt Uma Thurman, die schon bei „Pulp Fiction“ dabei war, eine ehemalige Auftragskillerin, die einen Mordanschlag knapp überlebt und nach vier Jahren im Koma blutig Rache nimmt. Tarantino spielte artistisch mit den verschiedenen Filmgenres, die er in „Kill Bill“ verarbeitete, baute Animationssequenzen ein und mußte das vor Innovationskraft und Ideenreichtum explodierende Werk schließlich in zwei Teilen in die Kinos bringen.
Er versteht es meisterhaft, seine Zuschauer bibbern zu lassen
Nach dem Résistance-Drama „Inglourious Basterds“ (2009), seinem Ausflug in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, der auch deutschen Darstellern wie Diane Kruger, Til Schweiger und Daniel Brühl Auftritte vor den staunenden Augen des internationalen Publikums verschaffte und für Christoph Waltz zum Raketenstart in Hollywood wurde, wandte sich der cineastisch universell Gebildete der Gattung des Italowestern zu und huldigte seinem Vorbild Sergio Corbucci. In „Django Unchained“ (2012) dient das Western-Genre einer blutigen Abrechnung mit der Sklaverei. In „The Hateful Eight“ (2015) ließ er zwei Kopfgeldjäger eine gefühlte Ewigkeit durch weiße Schneelandschaften fahren, ehe er die Handlung in einer einsamen Hütte mit der erwartbaren Gewaltorgie enden läßt.
Was Susanne Weingarten anläßlich des Filmstarts von „Pulp Fiction“ im Spiegel über den Regisseur schrieb, trifft auch auf die beiden Western zu: „Er verbindet Verehrung und Ketzerei. Er nimmt die alten Geschichten und erfindet sie neu, dreht und verfremdet sie, bis sie die denkbar absurdeste Wendung genommen haben.“ Zu seltener Meisterschaft hat es Tarantino darin gebracht, seine Zuschauer bibbern zu lassen. Dazu greift er gern auf den bereits von Alfred Hitchcock, dem Meister des Suspense, fast schon tückisch eingesetzten Trick zurück, den Zuschauer zwar etwas mehr wissen zu lassen als die Figuren vor ihm auf der Leinwand, aber eben auch nicht alles. Wenn also Christoph Waltz als SS-Offizier Hans Landa, um das vielleicht anschaulichste Beispiel zu nennen, in „Inglourious Basterds“ (gefühlt) eine halbe Stunde lang in einem Bauernhaus über einer heimlich versteckten jüdischen Familie hockt und dabei immer wieder bedrohlich grinst, wird das zum Ritt auf der Rasierklinge für jeden Zuschauer.
Der Regisseur, der als Jugendlicher zugunsten der Schauspielschule die Schule schmiß, läßt es sich nicht nehmen, gelegentlich in Nebenrollen seiner eigenen Filme aufzutreten, so in „Reservoir Dogs“, „Pulp Fiction“ und „Four Rooms“, aber auch in Filmen von geschätzten Kollegen wie Robert Rodriguez, der ihn in „Desperado“ (1995) oder dem von Tarantino geschriebenen Film „From Dusk Till Dawn“ mitwirken ließ.
Neben „Pulp Fiction“ als sein bestes Werk gilt sein jüngster Geniestreich „Once Upon a Time in Hollywood“ (2019), eine glänzend inszenierte Reflexion über Schein und Sein in der Traumfabrik mit Leonardo DiCaprio als Westernlegende im Karriereherbst und Brad Pitt als seinem hochvitalen Stuntman. In ausufernden, sonnendurchfluteten Tableaus, die selbst nur wenig Spektakuläres zeigen, erzeugt die lebende Regie-Legende eine elektrisierende Stimmung, eine unterschwellige Bedrohungslage, die an Roman Polanskis „Chinatown“ (1974) erinnert und schließlich in einer furiosen Neuinterpretation der historischen Umstände gipfelt, die 1969 zur Ermordung von Polanskis schwangerer Ehefrau Sharon Tate führten – ein virtuoses Spiel mit den Möglichkeiten, den Genres und der Geschichte des Kinos, das seinesgleichen sucht.
Und doch ist Tarantinos große Fangemeinde überzeugt, daß sich der Meister bei seinem nächsten Produkt wieder selbst übertreffen wird. Nichts verrät mehr über den Jubilar als das Serien-Projekt „Bounty Law“, das aktuell in Arbeit ist. „Bounty Law“ ist der Name der frei erfundenen Westernserie aus „Once Upon a Time in Hollywood“. Aus der wird jetzt Ernst. Man darf gespannt sein, wie viele Tote es diesmal werden.