Auch im hohen Alter ist Lore Kübler, Jahrgang 1936, noch eine resolute Dame. Das bekommt selbst ihre Tochter Kim immer wieder zu spüren. Wie besessen sammelt die Wahlbremerin Zeitungsausschnitte und hält alles, was ihr wichtig erscheint, in einem Notizbuch fest. „Wir haben die Verantwortung, Antisemitismus zu bekämpfen“, lautet das Credo ihres Lebens, auch wenn sie inzwischen mitunter etwas „durcheinander“ ist, wie sie zugeben muß. Und manchmal wackelt nachts das Bett, wenn sie schlecht träumt oder die Psyche ihr einen Streich spielt. Es ist auch schon vorgekommen, daß sie in ihrer Wohnung im Kreis herumlief und laut ausrief: „Ich sterbe! Ich sterbe!“
Noch immer sind sie da, die Erinnerungen an die dunkle Zeit, sie springen unvermittelt aus der Kiste wie ein Kuckuck aus der Uhr. Lore ist eine Überlebende des NS-Regimes. Sechs Jahre war sie alt, als ihre Mutter, „eine gute und schöne Frau“, nach Auschwitz deportiert wurde. Auch die Großmutter wurde von den Nationalsozialisten ermordet, sie starb im Lager Theresienstadt. „Die Kinder retten, darum geht’s“, kommt es Lore manchmal in den Sinn, wenn sie an die NS-Zeit denkt. Sie selbst war damals eines der Kinder, die gerettet werden mußten, versteckt vor NS-Schergen, die sie holen wollten. 17 Kilo nahm die Seniorin mit selbstquälerischer Ambition ab, als sie sich eines Tages einredete, sie sei ihrer Mutter ein Glas Wasser schuldig geblieben, ehe diese in die Gaskammer geführt wurde. Es war der Moment, in dem Kim merkte, daß ihre Mutter sie braucht.
Lores Sohn, Kims Bruder Tom, nahm sich das Leben
Die dunkle Vergangenheit lastet auch auf der 54jährigen Tochter wie ein Fluch, kreist über ihr wie ein Adler, der seine Klauen immer wieder nach seinem Opfer ausstreckt. Die mit einer Opernstimme begnadete Sängerin berichtet von Angstneurosen und Mißbrauchserfahrungen. Mit dreizehn reißt sie aus einem Zuhause aus, in dem es – linken Trends gemäß – friedensbewegt zugegangen sei, „antiautoritär und frei und wild“, aber nicht herzlich. Mit fünfzehn singt die Ausgebüxte in einer Berliner Band, sieht aus wie eine popkulturelle Kreuzung aus Kim Wilde und Nina Hagen. Die musikalisch Hochbegabte träumt von einer Karriere als Opernsängerin, kommt bei der Aufnahmeprüfung unter die letzten sechs und ist dann doch nicht dabei. 2018 singt sie für „Berlin erinnert sich“, eine Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht.
Jahrelang ist der Kontakt zu ihrer Mutter in Bremen auf ein Minimum beschränkt. Sie sagt zu ihr „Lore“, „Mama“ sagt sie nie. Am Ende des Films darf Kim „Ich grolle nicht“ von Robert Schumann (Text: Heinrich Heine) vortragen; das Lied ist Programm. „Meine Mutter aus mir herauslösen“, notiert sie in ihrem Tagebuch – eine Lebensaufgabe, für die Sisyphos-Qualitäten vonnöten sind. Die Berlinerin hört Radio Horeb, hat wie Heinrich Heine im christlichen Glauben einen neuen Halt gefunden, sich eine „Schneise in der Not geschlagen“, wie sie sagt. „Not lehrt beten.“ In Berlin ist sie, ohne es zu wissen, in einer Wohnung in unmittelbarer Nähe des Hauses gelandet, in dem einst ihre Mutter wohnte. Zufall?
Es gibt zwei Arten von Shoah-Opfern: die, deren Leib getötet wurde, und die, deren Seele Schaden nahm, indem sie überlebten. Der Dokumentarfilm von Sandra Prechtel widmet sich der zweiten Kategorie. Er wirkt wie die Illustration des plakativen Spruchs: „Du kannst den Menschen aus dem KZ bekommen, aber das KZ nicht aus dem Menschen.“
Die O-Töne ihrer Protagonistinnen bettet die Regisseurin in schwermütige Bilder ein, unterlegt mit düsteren Klängen (Musik: Reinhold Heil) oder mit dem Spiritual „Motherless Child“. So ist Prechtel ein berührendes Porträt gelungen, in dem sie subtil die seelischen Verwüstungen sichtbar macht, die in Überlebenden des NS-Terrors bis weit hinein in die Generation der Nachgeborenen fortbestehen und sich wie ein genetischer Schaden noch Jahrzehnte später in neuer Gestalt zeigen können. Etwa in den psychotischen Skizzen von Lores Sohn Tom, der sich 1998 das Leben nahm. Zum Schluß hörte er Stimmen, glaubte zu den Nazis zu gehören. Toms Tod ist ein weiteres Trauma im Leben von Lore und Kim.
Die Herbheit ihrer Mutter hat sich auf Kim übertragen. Als sie gemeinsam auf einer Parkbank sitzen, sagt Lore versonnen: „Ich liebe Bäume, ich liebe Tiere ...“ Ja, erwidert Kim, die seien leichter zu lieben „als so ein großes Stück Tochter“.