© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/23 / 24. März 2023

Dorn im Auge
Christian Dorn

Das Radio spielt den Song „I Can’t Stand the Rain“ von Tina Turner. Es erinnert mich an den Nachmittag, als es in Strömen regnet, so daß ich den Spaziergang zu dem nur wenige Schritte entfernten Sowjetischen Ehrenmal am Fuße der Spiegelsberge verschieben muß. Dann reißt der Himmel auf. Doch meine heimliche Hoffnung, an dem unterhalb des Bismarck-turms befindlichen Relikt sowjetischer Besatzungszeit würden sich Zeichen finden, die Zeugnis ablegen vom Krieg gegen die „Faschisten“ in Kiew, bestätigt sich nicht. Lediglich die Treppenstufen aus rotem Stein sind teilweise so locker, daß sie geradezu zu Vandalismus einladen. Doch die Ukrainer in Halberstadt parken lieber mit ihrem Tesla vor dem Supermarkt. Die tatsächliche Front verläuft eher im Bio-Laden, wo, wie mir die Betreiberin berichtet, die ukrainischen Frauen, des Deutschen nicht mächtig, arrogant auftreten. Ohne Eintritt ist die wohl einmalige Sichtachse zwischen Bismarckturm und Sowjetstern-Pyramide, an deren Sockel in deutscher (und russischer) Sprache zu lesen ist: „Ewiger Ruhm / Den Soldaten / Und Bürgern / Der Sowjetunion / Die im Kampf / Für die Freiheit / Und Unabhängigkeit / Ihrer Heimat fielen. / 1941 – 1945“. Ganz allein auf diesem trostlosen Gräberfeld frage ich mich: Welche „Ehrenmale“ wird es dereinst in der Ukraine geben, etwa in der Hafenstadt Mariupol, die der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag frisch gekürte Kriegsverbrecher Putin wie ein Dieb heimlich in dieser Nacht besucht hat?

Das Kinderspiel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ dürfte wohl bald auf dem Sensitivity-Index landen.

Im fast menschenleeren Hauptbahnhof Halberstadt torkelt derweil in den Abendstunden ein delirierender „PoC“-Typ mit Basecap herum. Der Kunde im Presseshop fragt die Verkäuferin, ob er die Polizei rufen soll. Deren beschwichtigende Antwort, mit Blick auf die „Vomit Victory“-Performance des Vortages im Ladengeschäft: „Mehr macht der nicht, der kotzt hier halt.“ Aber offenbar ist es doch nicht so simpel. Auf die Aussage der Verkäuferin, daß der hier den ganzen Tag rumhänge, erwidert der zweite Kunde, das könne nicht sein, weil er den Mann ständig im Stadtzentrum gesehen habe. In Zeiten von KI wird augenscheinlich auch der Vorgang des Beamens allmählich Wirklichkeit. Im Gegenzug scheint die Frage „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ kein Kinderspiel mehr, ganz abgesehen davon, daß es wohl bald auf dem Sensitivity-Index landen dürfte.


Einen Tag danach wirbt der Büchertisch vor dem Presseshop, unmittelbar nach dem Attentat in Hamburg, mit dem Titel „Der Amokläufer“, einer Novelle von Stefan Zweig – als wäre „Alles Zufall“, wie im Lied von André Herzberg auf dessen zweitem Soloalbum, „Tohuwabohu“. Auf dem im April erscheinenden neuen Album „Von woanders her“ singt Herzberg in einem von Donnerhall erfüllten Song: „Wir müssen dich stoppen“, womit der Kreml-Herrscher gemeint ist. In Anlehnung an den legendären frühen Pankow-Song ließe sich sagen: „Kille, Kille Putin.“ Zum Totlachen ist das nicht. Fehlt nur der Taxifahrer aus dem Radio: Russisch sei eine „warme Sprache, die das Eis bricht“.