© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/23 / 24. März 2023

Zeitschriftenkritik: Seite 9
Spaltungen der Gesellschaft
Werner Olles

Wer spaltet die Gesellschaft?“ fragt Herausgeber und Chefredakteur Michael Ludwig in seiner Titelgeschichte zur aktuellen Ausgabe (Nr. 28, März 2023) der Zeitschrift für Kultur und Politik Seite 9 und hält bereits die Frage, die ständig in Talkshows, von Politikern, Ökonomen und Soziologen erörtert werde, für obsolet. In weiten Teilen der Bevölkerung lasse sich eine derartige Teilung nicht feststellen, die ehemals krassen Klassenunterschiede seien fast völlig verschwunden, unzählige Förderprogramme würden nach wie vor aufgelegt, und die Umverteilung von oben nach unten laufe wie geschmiert. Zudem seien über ein Million Ukrainer mit offenen Armen empfangen worden, und nachdem das Ahrtal vor eineinhalb Jahren von einer verheerenden Flut heimgesucht wurde, habe es eine Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität gegeben.

Diese Einschätzung der bundesdeutschen Realität scheint jedoch zu kurz gegriffen, zumal Ludwig sie im nächsten Absatz konterkariert, wenn er feststellt, daß die illegale Masseneinwanderung Parallelgesellschaften entstehen ließ, die mit der autochthonen Bevölkerung kaum Gemeinsamkeiten aufweisen, in den Metropolen No-go-Areas existieren, „feindliches Ausland gewissermaßen“ (Ludwig), das man nur mit einem mulmigen Gefühl betrete. Man könnte diese Aufzählung fortführen mit dem ideologischen Kampf gegen die Kernkraft, der Abtreibung oder der Corona-Krise, in der Geimpfte gegen Ungeimpfte in Stellung gebracht wurden. Diese Spaltungen seien „dem verhängnisvollen Einfluß der Politik“ geschuldet, schreibt der Autor.

Heimo Schwilk beschreibt in „Kampf um Nietzsche in Weimar“, wie sich die Nationalsozialisten dieses großen Denkers bedienten, der sich selbst als Nihilist und „Übermensch“ stilisierte. Er habe angesichts der Dekadenz des Fin de siècle auf neue Quellen physischer und seelischer Lebendigkeit gesetzt und schien für die damals nicht nur in Deutschland aufblühende Eugenik ein Vorkämpfer des „neuen Menschen“ zu sein. Doch wurde dieser heroische Nietzscheanismus vor dem Weltkrieg in ganz Europa verherrlicht, beispielsweise unter Mussolini und Marinetti in Italien und Georges Sorel in Frankreich. Der NS-Philosoph Alfred Baeumler feierte Nietzsche als „Apologeten der Macht“, während er bei Karl Löwith zum „Antipoden der Moderne“ avancierte und Heidegger ihm „die Hauptrolle im Drama abendländischer Seinsvergessenheit“ übertrug, bis Habermas in den Sechzigern „das Unsystematische in Nietzsches Philosophie“ beklagte, um ihn zumindest in Deutschland vollends zu erledigen.

Ein weiterer Beitrag befaßt sich mit dem Elend der Theaterkritik und der Kritiker (Matthias Matussek).

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