© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/23 / 24. März 2023

Neue Sinnstifter im Gepäck
200 Jahre Germanistik: Ein Weltanschauungsfach nach dem postkolonialen Kostümwechsel
Oliver Busch

Das „Lied der Deutschen“ stammt von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der, bevor er 1842 wegen einiger Gedichte gegen Preußens Monarchie und Polizeistaat des Amtes enthoben wurde, an der Universität Breslau als Professor für Deutsche Sprache und Literatur wirkte. Ein Germanist als Textdichter der deutschen Nationalhymne (seit 1922) und als prominenter Märtyrer des Liberalismus – das ist kein biographischer Zufall. Bereits in den gegen Napoleon geführten Befreiungskriegen fühlten sich die Vertreter der „Wissenschaft vom geistigen Leben des deutschen Volkes“ verpflichtet, zur Bildung eines „einigenden Nationalgeistes unmittelbar beizutragen“ (Gustav Roethe). Die ersten Germanistenversammlungen, 1846 in Frankfurt und 1847 in Lübeck, galten daher schon rückblickenden Zeitgenossen als „Vorspiel der parlamentarischen Zukunft“, die 1848 in der Frankfurter Paulskirche begann. 

In dieser Symbiose zwischen patriotisch engagierter Philologie und vormärzlicher Einheitsbewegung gründet das bis in die frühen 1960er Jahre ungebrochene Selbstverständnis der germanistischen Zunft, die Deutschen in der Schule und auf der Universität im Medium ihrer Literatur weltanschaulich orientieren, ihnen Identität stiften und sie politisch erziehen zu müssen, mit dem Ziel, die im Spiegel der Dichtung gewonnene Selbsterkenntnis möge ihren Willen zur nationalen Selbstbehauptung gegen eine „Welt von Feinden“ stählen.

Große Erzählungen des alten weißen Mannes dekonstruieren

Als Folge des im Banne der „Selbstverdunkelung der deutschen Geschichte“ (Gerhard Ritter) abrollenden Kultur- und Wertewandels nach 1968 ist der westdeutschen Germanistik die Nation als wissenschaftlich-ideologischer Leitbegriff zwar abhanden gekommen. Doch ihren Anspruch, tonangebendes Weltanschauungsfach zu sein, minderte das nicht. Im Gegenteil. An die Stelle von Volk und Nation sind die neuen Sinnspender Individuum und Menschheit getreten, die mit einer nie zuvor erreichten Ausstattung an Geld und Personal erschlossen werden. Um sich weiterhin als Legitimationswissenschaft zu empfehlen, vollzieht das nunmehr entschieden antinational bis antideutsch aufgestellte Fach jeden Kostümwechsel des Zeitgeistes mit. Enthusiastisch tanzen „GermanistInnen“ seit Jahrzehnten mit beim ersatzreligiösen Gender-Voodoo und reiten bei der „Dekonstruktion“ der „großen Erzählungen“ des alten weißen Mannes – Aufklärung, Vernunft, Zivilisation – stets an der Tete. Aktuell sieht man sie im „postkolonialen“ Kampf gegen einen „Rassismus“, den sie über hundert Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialepisode quicklebendig in „machtvollen Diskurslogiken“ omnipräsent wähnen.

Das Feld, das die „postkoloniale Germanistik“ seit den 1990ern bis in die Nische einer „Koloniallinguistik“ hinein beackert, scheint aus der Perspektive der Literaturwissenschaftlerinnen Magdalena Kißling (Paderborn) und Jennifer Pavlik (Kassel), die dazu ein Themenheft der Zeitschrift Der Deutschunterricht (5/2022) redigierten, schier grenzenlos zu sein. Seine Konturen zeichnen sich an „Mohren-Apotheken“ und „Negerküssen“ genauso bedrohlich ab wie im Kanon klassischer Werke von Novalis bis Kafka, in Karl-May-Filmen („Winnetou-Debatte“), jugendliterarischen, Postkolonialität und Postmigration kritisch mixenden Romanen mit „Schwarzen Figuren“ sowie in unzähligen Varianten des durch Lektüre geprägten „Alltagsrassismus“. Es gebe zwar Lichtblicke wie die im Unterricht leicht zu vermittelnde afrodeutsche Spoken-Word-Kunst und postkoloniale Theaterstücke, mit denen „Schwarze und People of Color“ sich gegen die „hegemonial-kapitalistische Deutungshoheit in der Kunstszene“ wenden. Zudem böten gerade ältere fiktionale Texte auch jenseits einschlägiger Kolonialliteratur wie Gustav Frenssens „Peter Moors Fahrt nach Südwest“ (1906 – laut dem DDR-„Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller“ von 1972 „eines der besten seiner gekonnt geschriebenen publikumswirksamen Bücher“) oder Hans Grimms „Volk ohne Raum“ (1926) ein bisher nicht ausgeschöpftes großes Potential, um, gegen den Strich gelesen, „rassistische Imaginationen zu durchbrechen“ und „gängige Wahrnehmungen zu hinterfragen“.

Aber insgesamt werde das kulturelle Gedächtnis der weißen Mehrheitsgesellschaft leider wie eh und je von „rassistischen Vorurteilen und ausgrenzenden Normalitätsvorstellungen“ dominiert. Um so dringlicher seien Buch- und Filmanalysen im Klassenzimmer, die Schüler gegen „Rassismus, Sexismus und Klassismus“ immunisieren sollten. Sonst könne der „Kulturrassismus“ in offene Gewalt, „zum Beispiel in Form von Brandanschlägen“, ausarten. Mit diesem Raunen haben Kißling und Pavlik dann ihre postkoloniale Germanistik auch so politisch korrekt wie systemkonform in den „Kampf gegen Rechts“ integriert. 

Dabei sind sie, wie ihre Kollegen Iulia Karin Patrut (Flensburg) und Dominik Zink (Freiburg) in ihrer programmatischen Einleitung zu „Postkolonialismus und Literatur“ ausführen, doch ursprünglich angetreten, um „illegitime Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsstrukturen nicht nur freizulegen, sondern auch zu verändern“. Dieses Credo lehnt sich zwar fast wörtlich an Karl Marxens 11. Feuerbachthese an („Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an, sie zu verändern“), ist jedoch tatsächlich von der Vernunft- und Machtkritik des 1984 verstorbenen Marx- und Nietzsche-Schülers Michel Foucault inspiriert. Dessen nicht eben originelle „Ontologie der Gegenwart“ zielt darauf ab, rationalistische, die Menschlichkeit des Menschen unterdrückende Denk-, Sprach- und Erfahrungsweisen der europäischen Zivilisation als historisch bedingt und damit veränderbar offenzulegen, um dem dadurch befreiten Individuum eine autonome Existenz zu ermöglichen. 

Nützliche Zersplitterung des Widerstands „diverser“ Gruppen

Da Foucaults Sozialphilosophie im Unterschied zu Marx, zu linken wie rechten Modernekritikern, kein Kollektivsubjekt der Geschichte wie das Proletariat oder die Nation mehr benennen will, dem sie zutraut, den Prozeß der Veränderung des Bestehenden in Gang zu bringen und zu steuern, bleibt ihm nur die vage Hoffnung auf eine Koalition der Ausgegrenzten und Benachteiligten (Frauen, Homosexuelle, Arme, Kleinkriminelle, Migranten, ethnische Minderheiten), die sich vielleicht eines fernen Tages formierte, um sich selbstbestimmte Lebensverhältnisse zu erstreiten. Mit diesem letztlich defätistischen Konzept, so argumentiert eine wachsende Zahl von Foucault-Kritikern, sei der Philosoph schon zu Lebzeiten an US-Universitäten als neoliberaler Ideologe begeistert rezipiert worden. Denn nichts könnte die globalisierten Herrschaftsstrukturen des Finanzkapitalismus besser zementieren als eine im Sinne von „Teile und herrsche“ auf Dauer gestellte Zersplitterung des Widerstands „diverser“, zu übergreifender Solidarität unfähiger Gruppen in multikulturellen Einwanderungsgesellschaften.

Diese Kritik greifen schließlich auch Patrut und Zink auf, wenn sie darauf hinweisen, daß viele antirassistische Bewegungen nicht am Feminismus interessiert und überdies offen „homophob und transfeindlich“ seien. Wie die feministische US-Theoretikerin Nancy Fraser nachgewiesen habe, stabilisieren „gewisse Identitätspolitiken“ inzwischen neoliberale Herrschaftssysteme und verhindern, wie bei der „LGBTQIA+-Community“, deren „wahre Emanzipation“. Statt Menschen aus kapitalistischen Verwertungszusammenhängen zu befreien, bescherten sie ihnen, wozu auch die „postkoloniale Germanistik“ eifrig beiträgt, eine primär symbolpolitische, wohlfeilen „Respekt“ zollende Normalisierung ehemals abweichender, potentiell „revolutionär widerständiger“ Lebensformen, die darin münde, daß Mitglieder solcher Gruppen, wie alle anderen auch, „ihre Arbeitskraft zum Markte tragen können“.