Harte Zahlen nennt der Filmkritiker Georg Seeßlen zwar nicht, aber daß die Corona-Pandemie ein „gewaltiges Kinosterben, das über das Land geht“, beschleunigt habe, ist ihm gewiß. Für deren wahre Ursache hält er jedoch nicht die geschwundene Attraktivität westeuropäischer Innenstädte, die in der paradoxen Falle zwischen Verelendung und Gentrifizierung stecken, sondern den seit langem zu beobachtenden Verfall „cineastischer Öffentlichkeit“. Statt gemeinsam mit anderen vor der großen Leinwand sitze der Filmkonsument heute einsam vor dem Flachbildschirm. Das Besondere des Kinobesuchs, die Ritualität, selbst die Freude an Aufbruch und Rückkehr, am Woanders-Sein, entfalle unter solchen Umständen, könne aber leider nicht gegen Veränderungen des medialen Alltags verteidigt werden. Als „entscheidende Kraft zur Rettung cineastischer Öffentlichkeit“ könnte sich jedoch Filmfestivals erweisen, vor allem die jenseits der „Flaggschiffe“ in Berlin, Cannes und Venedig stattfindenden Veranstaltungen von nur regionaler oder lokaler Bedeutung. Vorausgesetzt, so hängt der Alt-Linke Seeßlen unverdrossen seinen 68er-Idealen nach, der Trend zur Eventkultur und zum Glamour-Spektakel könnte gebrochen und die Zukunft des Films als „sozialkritische Kunst“ gesichert werden. Der utopische Kern eines solchen Festivals bestehe darin, die Bewegung von Film in die Bewegung von Menschen zu übersetzen. Die gemeinsame, Macher und Zuschauer vereinende „Arbeit an und mit Filmen“ werde dann eine neue „gesellschaftliche Gemeinschaftlichkeit erzeugen“, die sich im Kampf gegen „antidemokratische und unterdrückende Verhältnisse“ engagiere (Universitas, 1/2023).