Glitzernde Bürotürme, funkelnde Lichter. Wenn sich die Abendsonne am westlichen Horizont verabschiedet und die Nacht beginnt, verwandelt sich Ho-Chi-Minh-City in Saigon, erwacht der alte Charme der lange auch „Venedig des Ostens“ genannten Stadt zu neuem Leben. Lange hatte die Mekong-Metropole im kommunistischen Koma gelegen, eine Art Dornrößchenschlaf, der jahrzehntelang anhielt. Armut, Verfolgung und Überwachung prägten das Klima in der einstigen Hauptstadt Südvietnams.
Ein Elend, das am 29. April 1975 seinen Anfang nahm. Als im Radio die Codewörter vermeldet wurden, die das Ende westlicher Herrschaft in Indochina ankündigten. „Ladys and Gentlemen, the temperature in Saigon is one hundred and five degree and rising.“ Die Temperatur in Saigon ist 105 Grad Fahrenheit und steigend. Es folgten musikalische Takte aus Bing Crosbys „White Christmas.“ Der Abgesang auf einen fehlerhaft geführten Krieg, der das Ende Südvietnams und das Ende der Freiheit in der bereits unter Beschuß liegenden Stadt bedeutete, während letzte US-Militärhubschrauber vom Dach der amerikanischen Botschaft Soldaten und Zivilisten evakuierten.
„Es wollten damals so viele mit“, erinnert sich Duong, ein ehemaliger Soldat der südvietnamesischen Armee. Auch er. „Aber ich hatte keine Chance. Nur wenige wurden ausgeflogen.“ Noch heute sieht er die verzweifelten Gesichter vor sich, hört die Schreie in seinem Kopf. „Die Menschenmassen stürmten zur Botschaft. Und die US-amerikanischen Soldaten drängten sie mit Knüppeln und ihren Gewehrkolben zurück, weil sonst das gesamte Gelände gestürmt worden wäre.“
Ihm sei klar gewesen, was nun drohte. Gefangennahme. Verhöre. Folter. Sogar der Tod. „Jeder versuchte, irgendwie zu überleben.“ Mehrmals sei er inhaftiert worden, geschlagen, gefoltert. Ein jahrzehntelanges Leben unter Hunger und Armut folgte. Es sei amüsant gewesen, wie später internationale westliche Organisationen auf naive Art und Weise der Regierung ihre Hilfe im Kampf gegen Hunger und Armut angeboten hätten. „Denen wurde dann mitgeteilt, daß es so etwas in der sozialistischen Republik Vietnam nicht gebe“, schmunzelt der heute 74jährige, um dann schnell wieder ernst zu werden.
„Wenn du Amerikaner wärst, würde ich da nicht mit dir hinfahren“
„Durch die Öffnung des Landes geht es vielen Menschen in Vietnam heute tatsächlich besser“, sagt er. Der Überwachungsapparat habe sich zurückgezogen, der Einzelne könne sich freier entfalten. „Das alles natürlich nur, solange man die Kommunistische Partei nicht in Frage stellt“, schränkt Duong gegenüber der JUNGEN FREIHEIT ein. Denn trotz aller formellen Liberalisierungen im Land seien Macht und Kontrolle der Partei sogar gewachsen. „Der Westen freut sich über die Öffnung des Landes und merkt nicht, wie das Regime seine Dekadenz als Schwäche erkannt hat und für seine Interessen ausnutzt“, kritisiert Duong.
Aussagen, die nicht in das friedliche Bild von Aufbruch, Veränderung und Wachstum passen wollen, das sich einem im Zentrum der Stadt bietet. Hier, wo sich vor fast 50 Jahren die dramatischen Szenen der Evakuierung abgespielt hatten, stehen heute riesige Bürotürme, flimmert das Neonlicht der Glaspaläste durch den Nachthimmel der Stadt. Ein gigantischer Bau- und Wirtschaftsboom hat die Stadt im Verlauf eines Jahrzehnts komplett verändert.
Gepflegte Parkanlagen. Saubere Straßen. Kein Graffiti an Gebäuden. Schon gar nicht am Rathaus der Stadt, einem Anfang des 20.Jahrhunderts zur französischen Kolonialzeit errichteten Gebäude, vor dem lediglich die Statue des Diktators Ho-Chi-Minh daran erinnert, daß das Land unter der Herrschaft einer mörderischen Ideologie steht.
Elektro-Autos surren über verstopfte Straßen. Wo einst Fahrräder das Stadtbild prägten, knattern nun Männer auf Motorrädern durch die Gassen. Beladen mit Frau, Baby und Huhn. Westliche Popmusik dröhnt durch die City. Schlangenbeschwörer spazieren mit ihren Tierchen durch die Fußgängerzonen, lassen sie da auch schon mal frei herumkriechen. Wer auf die Viecher steht, kann ihrem Körper auch in eingemachter Form in einer Schnapsflasche begegnen. Bevorzugt Giftschlangen. Wobei sich das Toxin des Reptils durch den Alkohol neutralisieren soll. Feuerschlucker bieten, auf ein wenig Bargeld hoffend, zwischen modernsten Hotels, Bars und Restaurants ihre Künste dar. Jugendliche treffen sich in den Parks und Fußgängerzonen, sitzen auf den zahlreichen und viel zu kleinen Klappstühlen, während ihre Hände an ihren Smartphones kleben.
Duong steuert einen dieser vielen Klappstühle an, ordert Erdnüsse und eine frische Trinkkokosnuß, während ein Geruchsmix aus Curry, Suppen und Motorradabgasen durch die Luft wabert. „Willkommen im Potemkinschen Dorf“, ruft er ironisch. Was er damit sagen will: Der Boom, das Wachstum, der neue Glanz der Stadt, das alles sei „nur eine Fassade“. Eine Fassade, deren Errichtung erst durch das Kapital westlicher Investoren ermöglicht werde. Mittlerweile sogar wieder vom Erzfeind USA.
An dessen Rolle in der kommunistischen Propaganda als „Feind“ hat sich dabei wenig geändert. Im städtischen Kriegsmuseum werden Franzosen und Amerikaner noch immer als Kriegsverbrecher dargestellt, Greueltaten kommunistischer Soldaten, insbesondere an den Bergvölkern und der südvietnamesischen Bevölkerung hingegen verschwiegen. Gemeinsam mit Duong fährt die JUNGE FREIHEIT nach Cu Chi, 60 Kilometer nordwestlich von Saigon. Hier befindet sich ein Teil des berüchtigten, bis zu 250 Kilometer langen Tunnelsystems des Vietcongs. „Wenn du Amerikaner wärst, würde ich da nicht mit dir hinfahren. Es gibt noch viele Ressentiments. Jemand wird dich vielleicht auch unauffällig in ein Gespräch verwickeln und dich aushorchen“, warnt er vor.
Duong kennt die Tunnel noch aus seiner Zeit als aktiver Soldat. Er will wenig über diese Zeit reden. Darüber, wie sie den Feind unter der Erde verfolgten. Wie Kameraden in den Holzfallen aufgespießt wurden, die der Vietcong in den Ecken der zahlreichen unterirdischen Räume eingebaut hatte.
Betreten will er die Tunnel nie wieder. Seine Hände zittern, wenn er davon spricht. Er bleibt im Auto, will selbst die Anlage nicht betreten. Die Tunnel sind in Dreiecksform gebaut, dadurch besonders stabil. Kleine Luken im Boden führen ins Erdinnere. Verdeckt von Laub. Nur schlanke, kleine Menschen passen problemlos durch. Einer der Vorteile, die der Vietcong gegen die US-Truppen ausspielte. Ein Mann um die 50 nähert sich, stellt freundlich viele Fragen. „Woher kommen Sie? Wieso sind Sie hierhergekommen? Sind Sie Amerikaner? Was haben Sie noch so vor in Vietnam? Was halten Sie vom Land?“
Trotz Differenzen ist Saigon loyal gegenüber Peking
Der Mann ist etwas untersetzt. In die Tunnel kommt er nicht rein. Somit stellt er keine Fragen mehr. Dafür stickige, modrige Luft in dunklen, engen Gängen. Definitiv nichts für Leute mit Platzangst. In permanent gebückter Haltung geht es durch das Erdreich. Mit Ameisen, Spinnen und Fledermäusen als Begleitung. Tiefer hinab. Die erste Ebene hätten die Amerikaner teilweise zerstören können. Aber die tiefer gelegene zweite und dritte Ebene sei stets intakt geblieben.
Die Besichtigung der Tunnel ist von reichlich
filmischer Propaganda begleitet. Wer damit aufwächst, kann nur Vorbehalte gegen den Westen und seine Verbündeten haben. „Dennoch glaubt man heute im Westen, in Vietnam eine Alternative zu China zu haben“, sagt Duong später und schüttelt ungläubig den Kopf.
Vietnam ist eines der Länder mit der geringsten Pressefreiheit
Tatsächlich hatte es in der Vergangenheit immer wieder Spannungen zwischen Vietnam und seinem großen kommunistischen Bruder in Peking gegeben. Gegenwärtig gibt es Gebietskonflikte um die Paracelsus-Inseln im Südchinesischen Meer. Daß sich das Land im Falle eines offenen Konfliktes zwischen den USA und China auf die Seite der Amerikaner schlägt, hält Duong jedoch für „Wunschdenken des Westens.“ Vor allem ihre Wirtschaftsvertreter seien „blind vor Gier“ auf Absatz und Gewinn.
„Sie sehen die günstige Herstellung ihrer Produkte in Vietnam. Für sie und für die Touristen ist diese Fassade errichtet worden. Sie sehen nicht den politischen Zweck dahinter, den die Kommunistische Partei verfolgt“, erklärt Duong, daß der große wirtschaftliche Aufschwung und die damit verbundene Euphorie einen beträchtlichen Haken haben.
Etwa die schleichende Deindustrialisierung Europas. Begünstigt durch die hohen Energiepreise verlagern gerade deutsche Konzerne zunehmend ihre Produktion nach Asien. Vor allem nach Vietnam. War einst China das bevorzugte Produktionsland westlicher Unternehmen, rückt angesichts wachsender Spannungen mit Peking der Nachbarstaat zunehmend in ihren Fokus.
Verwunderlich ist das nicht. Während in China Kontrollen und Repressionen zugenommen haben, wurden sie in Vietnam abgebaut. Was sich schon bei der Einreise bemerkbar macht. Kein Visum für maximal 15 Tage Aufenthalt, keine Befragungen bei der Ankunft. Auch Gespräche mit Einheimischen sind unkompliziert möglich. Dabei hatte es Zeiten in dem Land gegeben, in denen jeder Kontakt eines Vietnamesen zu westlichen Ausländern kritisch analysiert wurde.
„Sie brauchen diese Kontrollen nicht mehr. Früher sah man hinter jedem Ausländer einen potentiellen Spion. Doch jetzt haben die Machthaber mit dem Volk einen Deal“, sagt Duang. Jeder könne sich inzwischen wirtschaftlich weitgehend frei in seinem Bereich entfalten, solange er den allumfassenden Machtanspruch der Partei nicht in Frage stellt.
Dadurch gelangen die Menschen zu mehr Wohlstand und stellen das System und seine Schattenseiten nicht infrage. Gegen Kritiker der Partei würde heute jedoch stärker vorgegangen denn je, oppositionelle Blogger und Journalisten zu hohen Haftstrafen verurteilt. „Es gibt keinen Rechtsstaat wie im Westen, die Justiz ist die Partei. Parlament, Verwaltung und Gerichte werden einzig von ihr kontrolliert.“
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rangiert Vietnam auf Platz 174 von 180 bewerteten Staaten. Die sozialen Medien werden streng überwacht, Kritik am Regime wird strafrechtlich verfolgt.
„Es gibt in Vietnam praktisch keine Opposition“, erklärt Duong. Seine Prognose: „Der Tag wird kommen, an dem Europa und die USA in Vietnam ähnlich desillusioniert werden wie jetzt in Rußland oder China.“ Dann fügt er an: „Hoffentlich ist dieser Tag nicht allzu fern.“