Sie treten in schwarzen Kapuzenpullovern auf, demonstrieren gegen Israel und fordern die Einheit des Islams in einem Gottesstaat. Vor allem junge Menschen versucht die Gruppierung „Muslim Interaktiv“ über die sozialen Medien für ihren religiösen Fanatismus zu gewinnen.
Bisher hatte die islamistische Gruppe lediglich einige hundert Anhänger für Demonstrationen in deutschen Großstädten gewinnen können. Doch im vergangenen Monat brachte sie bei einer Kundgebung in Hamburg bereits über 3.000 religiöse Eiferer auf die Straße. Entsteht mit „Muslim Interaktiv“ gerade eine neue islamistische Massenbewegung in Deutschland? Wer steckt hinter dieser Bewegung und was will die Gruppe mit ihren Aktionen erreichen?
Die Spur zu der Organisation führt nach Hamburg. Die Hansestadt gilt als zentrales Operationsfeld der Gruppe. Hier dreht sie die meisten ihrer auf Youtube hochgeladenen Videos. Auch für Kundgebungen und Demonstrationen ist die Elbmetropole ein Schwerpunkt. Hinzu kommen nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes Unterstützer und Organisatoren aus Hamburg.
Ihre Videos sind professionell gestaltet. Wie die meisten radikalen Gruppen versucht auch „Muslim Interaktiv“ sich als Opfer darzustellen, das von der Gesellschaft diskriminiert werde. Die Mitglieder sprechen von einer „Dämonisierung“ der Muslime in Deutschland. Davon, daß der Islam „diffamiert“ werde und Muslime in Deutschland im Rahmen einer „Wertediktatur“ der „Zwangsassimilation“ ausgesetzt seien.
„Die scheinen mehr Einfluß auf Jüngere zu haben“
Ortstermin in Wilhelmsburg, einem Stadtteil im Süden Hamburgs mit hohem Migrantenanteil, darunter viele, besonders junge Muslime. Für die Gruppe das ideale Revier, um weitere Mitstreiter zu rekrutieren. Und tatsächlich: Nach einigem Herumfragen folgt ein Treffer. „Wir wurden von denen auch mal angequatscht“, schildert Selçuk eine Begegnung mit einem mutmaßlichen Aktivisten von „Muslim Interaktiv“. „Wir“, das sind der 19 Jahre alte Gymnasiast und sein Klassenkamerad Isan, mit denen die JUNGE FREIHEIT in der Nähe eines Supermarktes in dem Hamburger Stadtteil ins Gespräch kommt. Beide sind in Wilhelmsburg aufgewachsen, kennen die Jugendlichen in der Gegend. Die jungen Männer von „Muslim Interaktiv“ kannten sie jedoch nicht.
„Die reden dich immer mit ‘Mein Bruder’ an, erzählt der 19jährige. Er selbst sei für diese Art religiöser Eiferei jedoch nicht zu gewinnen. „Die haben immer von dem besonderen Erlebnis gesprochen und davon, daß ich meinen Glauben entdecken könnte und so etwas“, erinnert sich Selçuks Freund Isan (18) der dabei war. Gläubiger Muslim sei er zwar schon. „Aber das war mir alles doch irgendwie zu kraß.“ Er glaube nicht, „daß die hier besonders viele Leute anwerben können.“ Selçuk ist sich da nicht so sicher. „Sie sprechen immer davon, daß alle Muslime zusammenhalten und die Gemeinschaft stärken müssen. Ich kann mir schon vorstellen, daß sich besonders Außenseiter mit wenig Freunden davon angezogen fühlen.“
Neu sind diese Methoden muslimischer Seelenfängerei allerdings nicht. Schon einige Jahre zuvor machten Gruppen wie „Realität Islam“ und „Generation Islam“ mit ähnlichen Aktionen auf sich aufmerksam. Auch gibt es personelle Verflechtungen zwischen den Gruppen. So wurde im Mai 2021 eine Kundgebung in Hamburg, die der Verfassungsschutz als antisemitisch einstufte, von einer Person mit Bezügen zu den Gruppen „Muslim Interaktiv“ und „Realität Islam“ angemeldet. Sie sollen zudem eine Nähe zu der 1953 in Jerusalem gegründeten Organisation Hizb ut-Tahrir aufweisen, die in Deutschland seit 2003 einem Betätigungsverbot unterliegt. Bei Hizb ut-Tahrir handelt es sich um eine international agierende islamistische Organisation, die aus der ebenfalls religiös-radikalen Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. In ihren Anfangsjahren lag ihr Ziel noch in der „Befrreiung“ Palästinas von der „Besetzung“ Israels. Heute strebt sie die „Befreiung“ aller Muslime von einer aus ihrer Sicht bestehenden Unterdrückung durch den Kapitalismus und westliche Werte an.
Ihr zentrales Anliegen ist die Vereinigung der Gemeinschaft der Muslime, verbunden mit der Errichtung eines weltweiten Kalifats, in dem die Scharia allumfassend eingeführt wird. Jede hiervon abweichende Staatsform wird von Hizb ut-Tahrir, deren Name übersetzt „Partei der Befreiung“ bedeutet, abgelehnt. Nur ein von Allah legitimierter Staat unter der Führung eines Kalifen wird akzeptiert.
Bedingt durch das Betätigungsverbot versucht die Organisation offenbar über den Umweg von Gruppierungen wie „Realität Islam“, „Generation Islam“ oder jetzt „Muslim Interaktiv“ Mitstreiter für ihre Ziele zu gewinnen, jedoch auf legalem Wege, ohne Anwendung von Gewalt. Mit dieser Taktik des sogenannten legalistischen Islamismus versucht die Organisation auf gesetzeskonformem Wege Einfluß auf Politik und Gesellschaft in Deutschland zu gewinnen. Auf subtile Art und Weise sollen so Formen ihres Islamverständnisses in Deutschland Fuß fassen, der demokratische Rechtsstaat langfristig ausgehöhlt werden. Gleichzeitig sorgt sie mit ihren radikalen Thesen in den sozialen Medien und auf ihren Kundgebungen dafür, daß sich Teile ihrer Anhängerschaft extremeren Gruppierungen zuwenden, die schließlich auch die Ausübung von Gewalt billigen. Bisher führten diese Gruppierungen innerhalb der muslimischen Gemeinde in Deutschland eher ein Außenseiterdasein, standen im Schatten von Organisationen wie etwa der von der türkischen Erdoğan-Regierung gesteuerten Millî Görüş-Bewegung.
„Das sind Spinner, die tauchen immer mal wieder in den Moscheen auf. Aber kaum einer mag sie und kaum einer will sie“, berichten Muslime rund um die Ditib-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld, eines der größten muslimischen Gotteshäuser in Deutschland. Hier halte sich der Einfluß von „Muslim Interaktiv“ in Grenzen. „Das ist eine reine Splittergruppe, ich kenne die nur von Youtube“, sagt etwa Hakan, ein Dönerverkäufer aus dem Stadtteil. Im Gespräch mit der JF räumt er jedoch ein: „Ich bin durch meinen Sohn auf die aufmerksam geworden. Auf die jüngere Generation scheinen die mehr Einfluß zu haben.
Tatsächlich scheint die Anhängerschaft von „Muslim Interaktiv“ zumindest im Raum Hamburg zu wachsen. Waren es in den Jahren zuvor lediglich wenige hundert Mitstreiter, die die Gruppierung aktivieren konnte, so sind es inzwischen Tausende. Dabei fokussiert sich die Gruppe vor allem auf gebildete Glaubensbrüder. Besonders Schüler und Studenten zählen daher zu ihrer Zielgruppe. Auch die Unterwanderung muslimischer Moscheegemeinschaften steht auf der Agenda der Gruppen rund um Hizb ut-Tahrir.
Darüber, ob die Organisation auch in Hamburgs berüchtigter „Blauer Moschee“ an der Alster (JF 30-31/21), deren Trägerverein Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) als Außenposten des iranischen Regimes gilt, Fuß fassen konnte, liegen den Behörden in der Hansestadt derzeit keine Erkenntnisse vor. „Aber die werden bestimmt auch da versuchen, die Leute zu belabern“, sind sich Isan und Selçuk aus Hamburg-Wilhelmsburg sicher.
Legalistischer Islamismus
Organisationen wie Millî Görüş, die Muslimbruderschaft oder Hizb ut-Tahrir werden als legalistische islamistische Gruppen bezeichnet. Sie lehnen es ab, Gewalt anzuwenden, und wollen ihre extremistischen Ziele – strenge Lesart des Koran, Scharia-Ordnung – mit politischen Mitteln innerhalb der bestehenden Rechtsordnung durchsetzen. Dazu betreiben sie Lobbyarbeit und geben sich ungeachtet ihrer totalitären Ideologie nach außen oft tolerant und dialogbereit.