Die von der Ampelkoalition durchgesetzte Wahlrechtsreform gegen die gesamte Opposition hat weitreichende Folgen: Die Kontroversen im Bundestag werden härter, die Distanz der Wähler gegenüber den Gewählten wird größer. Bleibt die Hoffnung, das Bundesverfassungsgericht werde mit seinem letzten Wort verlorenes Vertrauen in die Demokratie wiederherstellen.
Die hitzige Redeschlacht, die sich der Bundestag am vergangenen Freitag geliefert hat, wird den 736 Abgeordneten in lebhafter Erinnerung bleiben; weil die Neuregelung die Zahl der Mandate auf 630 begrenzt und damit für manchen Volksvertreter das Karriereende 2025 näher rückt. Daß der Bundestag, nach dem Volkskongreß in China das zweitgrößte Parlament der Welt, verkleinert werden soll, darüber war man sich parteiübergreifend einig. Zumindest offiziell.
Doch die Änderungen haben es in sich. Die Grundmandatsklausel soll gestrichen werden; sie sicherte 70 Jahre lang Parteien den Einzug in den Bundestag, auch wenn sie auf weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen kamen. Voraussetzung war der Gewinn von drei Direktmandaten. So gelang 39 Linken-Abgeordneten 2021 bei nur 4,9 Prozent der Sprung ins Parlament. Nach dem Bundestagsbeschluß blieben die Linken draußen. „Sie überlassen der AfD den Osten“, erregte sich deren Parlamentarischer Geschäftsführer Jan Korte. Wie feindselig die Atmosphäre inzwischen ist, mag sein Fluch in Richtung Ampel belegen: „Ich wünsche Ihnen politisch alles erdenklich Schlechte!“
Existentielle Sorgen macht sich auch die CSU, die nur in Bayern zur Wahl antritt. Die Regionalpartei muß im Freistaat so stark punkten, daß sie bundesweit auf mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen kommt. 2021 erreichte die CSU in ihrem Stammland 31,7 Prozent, kam damit im Bund aber nur auf 5,2 Prozent; gefährlich nahe an der Sperrklausel. In Bayern errang sie aber 45 der 46 Direktmandate. Alle Wahlkreissieger wären ohne Fahrkarte nach Berlin geblieben, wenn die CSU im Bund unter fünf Prozent geblieben wäre. Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sieht die AfD als „geistigen Urheber der Wahlrechtsreform“. Nach dem Gesetzesbeschluß bleibt es bei 299 Wahlkreisen und zwei Stimmen. Doch kann der Direktkandidat mit den meisten Erststimmen im Wahlkreis nicht mehr automatisch das begehrte Kürzel „MdB“ hinter seinen Nachnamen setzen. Ihm wird ein Mandat nur zugeteilt, wenn es durch das Zweitstimmenergebnis (Parteistimme) gedeckt ist. Da muß der Wahlkreissieger auf der Landesliste weit vorn abgesichert sein. Eine Regelung, die die Parteizentralen stärkt und den Kandidaten schwächt.
„Herr Bundespräsident, stoppen Sie dieses Gesetz!“
Die Ampelkoalitionäre mußten deshalb schlucken, als Wolfgang Schäuble (CDU), Respektsperson mit 50 Jahren Parlamentszugehörigkeit, zum großen Verriß ansetzte: „Hier wird ein System geschaffen, das auf Täuschung und Enttäuschung des Wählers ausgelegt ist.“ In seiner Amtszeit als Bundestagspräsident hatte er lange mit den Fraktionen um eine Verkleinerung des Parlaments gerungen. Vergebens. „Dem Wähler wird suggeriert, er könne seine Wahlkreiskandidaten direkt wählen – dabei wird der Kandidat am Ende womöglich gar nicht ins Parlament gelangen“, so das Politik-Urgestein, das nicht gerade als CSU-Freund bekannt ist. Eine solche „Irreführung der Wähler“ sei auch ein verfassungsrechtliches Problem.
Die Ampel argumentiert, die Bundestags-Verkleinerung sei nur möglich durch die Streichung der Überhang- und Ausgleichsmandate. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate über die Erststimme gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Damit die Überhangmandate die Mehrheitsverhältnisse nicht verzerren, bekamen die anderen Fraktionen seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 Ausgleichsmandate. Die Folge war der vielgeschmähte „Bläh-Bundestag“ an der Grenze seiner Arbeitsfähigkeit. Daß die Neuregelung kleineren Parteien den Weg in den Bundestag erschweren dürfte, wird in der Ampel nicht ernsthaft bestritten. SPD, Grüne und FDP verweisen auf das Bundesverfassungsgericht, das mehrfach das Verhältniswahlrecht gestützt habe. Die Zweitstimme sei also schon immer entscheidend für die Stärkeverhältnisse im Bundestag gewesen. Der CSU-Chef, Bayerns Regierungschef Markus Söder, appellierte an Frank-Walter Steinmeier: „Herr Bundespräsident, stoppen Sie dieses Gesetz!“ Union und Linke haben eine Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht angekündigt.
Nicht zuletzt da Andeutungen aus der FDP in Richtung CSU bisher ohne Resonanz geblieben sind; etwa die des Parlamentarischen Geschäftsführers Stephan Thomae, nach der Grundentscheidung darüber zu sprechen, „ob für die CSU hier eine Regelung getroffen werden muß“. In der FDP sorgt man sich, Unionswähler könnten mit einer möglichen FDP-Zweitstimme zögern, da die Erststimme entwertet worden ist.
FDP und Grüne hatten geschlossen für die Wahlrechtsreform votiert, bei der SPD gab es wenige Gegenstimmen und Enthaltungen. Bei der AfD wurde ein unterschiedliches Abstimmungsverhalten registriert. Mit der Attitüde eines Staatsrechtslehrers hatte deren Abgeordneter Albrecht Glaser den eigenen Gesetzentwurf begründet. Er ähnelt sehr dem Ampel-Gesetz, mit einer Ausnahme: Die „offene Listenwahl“ sollte dem Wähler Einfluß auf die bisher starre Bewerberreihenfolge der Landesliste sichern, indem er die von den Parteien vorgegebene Rangfolge verändert. Bewerber auf aussichtsreichen vorderen Plätzen könnten sich durch den Wähler plötzlich am Ende wiederfinden und umgekehrt. Glaser: „Das wäre ein echter demokratischer Fortschritt. Den aber will die Ampel nicht.“ Während der Abgeordnete aus Hessen den Klagen in Karlsruhe kaum Chancen einräumt und sich über den „Kult um das Direktmandat“ mokiert, sehen das einige seiner Fraktionskollegen aus den Ostländern ganz anders, insbesondere in der Landesgruppe Sachsen, wo sämtliche AfD-Mandate direkt gewonnen wurden.
Was für die Ampel einen echten demokratischen Fortschritt darstellt, mag in AfD-Ohren unerhört klingen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) gab schon mal die Richtung vor: Senkung des Wahlrechts von 18 auf 16 Jahre, Geschlechterparität, Verlängerung der Wahlperiode von vier auf fünf Jahre. Solche weitreichenden Änderungen hatten SPD und Grüne schon im Ausschuß vorgelegt. Im Bundestag bräuchten sie dafür allerdings eine Zweidrittelmehrheit, die sie derzeit nicht bekämen. Die Wahlrechtsreform geht also weiter.