An Vorpommerns Ostseeküste zeigt sich die Umwelt und Tourismus bedrohende Gigantomanie der verschärften Energie- und der geopolitischen „Zeitenwende“. Doch auf Rügen und der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst formiert sich massiver Widerstand. Auf der größten Insel Deutschlands wird mobil gemacht gegen ein Terminal für Flüssigerdgas (LNG), das nur fünf Kilometer vor dem Ostseebad Sellin errichtet wird. Seit Dezember 2022 ankert hier schon der Tanker „Seapeak Hispania“, der als schwimmender LNG-Speicher (FSU) fungieren soll. Hier wird das als Ersatz für „Putin-Gas“ teuer eingekaufte LNG aus aller Welt übernommen und zwischengelagert.
Vier kleinere Shuttle-Schiffe (SLNGC) übernehmen dann das LNG und transportieren es über den Greifswalder Bodden nach Lubmin zur „Neptune“, einer schwimmenden Speicher- und Wiederverdampfungsanlage (FSRU). Dort wird das minus 164 Grad kalte Flüssiggas „regasifiziert“. Es hat danach das sechshundertfache Volumen und kann so ins Ferngasnetz eingespeist werden. Das zweite geplante FSRU in Lubmin soll zum Jahresende in Betrieb gehen. Für den LNG-Transport bis dahin ist zudem eine 38 Kilometer lange Gasleitung vorgesehen, die die SLNGCs ersetzen soll.
Teurer Strandurlaub in Sichtweite eines Industriekomplexes?
Ein Projekt, das sich im Genehmigungsverfahren befindet und gegen das sich eine Bundestagspetition (14 68 39), eine Petition an Wirtschaftsminister Robert Habeck auf Change.org (#RügenGegenLNG) sowie juristische Einwendungen richten. Die Offshore-Pipeline „würde eine endgültige Industrialisierung dieses sensiblen Naturraums bedeuten“, warnt beispielsweise Sascha Müller-Kraenner, Geschäftsführer der Umwelthilfe (DUH). Der Greifswalder Bodden sei die Kinderschule des Ostseeherings und für Seevögel wie Tordalke, Eisenten, Prachttaucher, Sterntaucher und Zwergmöwen. Der Naturschutz und „der auf Rügen wichtige Tourismus werden einfach ignoriert“. Die DUH werde alle rechtlichen Mittel ausschöpfen, um die Ostsee „gegen diesen Irrsinn zu schützen“.
Doch das neue LNG-Beschleunigungsgesetz der Bundesregierung reduziert Umweltverträglichkeitsprüfungen. Käme es jedoch zu Öl- oder Chemikalienunfällen, Pipeline-Lecks, Bränden oder Blackouts auf den LNG-Plattformen, blieben den für die Gefahrenabwehr zuständigen Gemeinden an Rügens südöstlicher „Ferienküste“ bei Ostwind laut einem NDR-Report nur „wenige Minuten“ Reaktionszeit. Aber auch schon der Normalbetrieb bereitet Probleme, denn wirtschaftliche Einbußen sind zu erwarten, weil Strandurlaub in Sichtweite eines Industriekomplexes auf See nicht jedermanns Sache ist. Bei den LNG-Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel sowie dem geplanten FSRU in Stade, wo die Meerstiefe viel größer ist, ist die Ablehnungsfront hingegen nicht so stark.
Christian Zornow, der 2019 über die CDU-Liste zum Bürgermeister der 3.000-Einwohner-Gemeinde Zingst gewählt wurde, treiben ähnliche Sorgen um, wie die Schleswig-Holsteinische Landeszeitung berichtete. Denn 15 Kilometer vor dem Strand des Ostseeheilbads entsteht ein „Mega-Windpark“. Mit 103 Turbinen und 927 Megawatt Gesamtleistung werde er 2027, wenn alle Anlagen Strom produzieren, „der leistungsstärkste in der deutschen Ostsee“ sein, verspricht der Eigentümer, die Bremer Skyborn Renewables GmbH. Das Amt für Landwirtschaft und Umwelt Mittleres Mecklenburg (StALU) hatte den Offshore-Windpark „Gennaker“ 2019 genehmigt. Ob eine von Zornow beim Verwaltungsgericht Greifswald dagegen eingereichte Klage das Vorhaben verhindert hätte, ist angesichts der in der Justiz herrschenden Energiewende-Begeisterung unwahrscheinlich.
Doch das Gerichtsverfahren ruht ohnehin, weil plötzlich ein neuer Sachverhalt eingetreten ist. Die Windpark-Betreiber stellten einen überarbeiteten Genehmigungsantrag, weil sie Anlagen von 190 Meter statt der genehmigten 175 Meter Höhe bauen wollen. Die niedrigeren Turbinen seien „technisch veraltet“. Diese Änderung muß ein neues Genehmigungsverfahren durchlaufen – samt Umweltverträglichkeitsprüfung. Zornow hofft, daß das StALU diesmal seinem Hauptargument Rechnung trägt, das auf Lage und Ausdehnung von „Gennaker“ zielt. Der Windpark ist so großzügig geplant, daß er an die Kadetrinne heranreicht.
Ein Teil dieses vom Fehmarnbelt und bis Bornholm reichenden Seegebiets liegt zwischen Zingst und der dänischen Insel Falster. Gerade hier ist eines der schwierigsten Fahrwasser der Ostsee. Der stark befahrene Seeweg ist auf zwanzig Seemeilen nur zwölf bis 28 Meter tief. Schiffskollisionen an seiner engsten Stelle, einem nur einen Kilometer breiten „Nadelöhr“, sind ein reales Risiko. Bislang verliefen die Unfälle halbwegs glimpflich, etwa im März 2001, als ein Frachter den Tanker „Baltic Carrier“ mittschiffs rammte und durch das Loch in der Bordwand 1.500 Liter schweres Heizöl in die See liefen. Glücklicherweise blieben die Tankräume mit der Ladung von 32.000 Tonnen Öl aber unversehrt.
Naturschutzbelange zugunsten der Ampel-Klimaziele ausgeblendet
Zu dieser Kollisionsgefahr käme nun die Gefahr eines Zusammenstoßes zwischen Schiff und Windturbine. Wie die Havarie des Frachters „Maestro Diamond“ demonstrierte, der im Oktober 2016 bei schwerer See auf das nordwestlich der Kadetrinne liegende Gedser-Riff auflief. Hier hätten Tausende Liter Diesel austreten können, wäre der Frachter nicht freigeschleppt worden. Unter den Folgen eines solchen Unglücks hätten nicht nur die Strände von Zingst und Ahrenshoop zu leiden, sondern auch Flora und Fauna des 2017 eingerichteten „Naturschutzgebiets Kadetrinne“, Lebensraum von Schweinswal, Pracht- und Sterntaucher und Zwergmöwe sowie Regerationsraum einer umfassenden Tier- und Pflanzenwelt des Meeresbodens.
Dessen ungeachtet hält Kim Detloff, Leiter Meeresschutz beim Naturschutzbund (Nabu), es für möglich, daß auch der neue Skyborn-Antrag „durchwinkt“ wird. Warum „Gennaker“ überhaupt genehmigt wurde, lasse sich allein mit dem Willen erklären, den phantastischen „Klimazielen“ der Ampel zuliebe die Natur rücksichtslos zu opfern: „In Deutschland haben Politik, Verwaltung und Wirtschaft derzeit Scheuklappen auf beim Ausbau der Erneuerbaren.“ Naturschutzbelange würden „quasi ausgeblendet“. Auch der Nabu erwäge darum eine Klage gegen den eventuell abermals für „umweltverträglich“ erklärten „Mega-Windpark“, zu der auch Bürgermeister Zornow und seine Amtskollegen aus den Zingster Nachbargemeinden entschlossen sind.