© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/23 / 17. März 2023

Institutionelle Bändigung des Chaos
Der Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte Peter R. Neumann beschreibt den Niedergang des Westens unspektakulär
Felix Dirsch

Bereits frühere Einschnitte von weltgeschichtlichem Ausmaß, etwa der Erste oder der Zweite Weltkrieg, ließen die Sehnsucht nach neuen ordnungsstiftenden globalen Institutionen wachsen. Diese sollten in der Lage sein, das vor allem infolge von Kriegen und ihren Konsequenzen entstandene Chaos zu bändigen und im Idealfall dauerhafte Stabilität zu ermöglichen. Folglich wurden 1919 der Völkerbund und 1945 die Vereinten Nationen ins Leben gerufen.

Die weltweite Stimmungslage „nach Corona“ ist nicht grundlegend anders, zumal sie sich durch den Krieg zwischen Rußland und der Ukraine weiter eingetrübt hat. Wenn Peter R. Neumann – ebenso wie sein Münchner Kollege Carlo Masala – im Titel seines jüngsten Buches den Ausdruck „Weltunordnung“ wählt, so ist dieser Sprachgebrauch wohl dem Bedürfnis nach Abgrenzung gegen Verschwörungsmythologien aller Art geschuldet. Sie ranken sich seit entsprechenden frühen Entwürfen in der Aufklärungszeit hartnäckig um die zahllosen Weltordnungskonzeptionen.

Der Duktus von Neumanns Schrift mutet konventionell an. Der Autor präsentiert nicht nur eine Geschichte des Westens in den letzten drei Jahrzehnten, sondern übernimmt die gängigen Narrative der Fachkollegen. Bekannte Beobachter des internationalen Geschehens, von denen Joschka Fischer, Fareed Zakaria und Niall Ferguson anzuführen sind, machen den Niedergang des Westens als wesentliche Signatur des Weltzeitgeistes aus. 

Staaten sind immer weniger die primären Akteure der Weltordnung 

Das Licht des Westens, das mittlerweile immer mehr erlischt, strahlte an einer Epochenschwelle überaus hell: Kurz nach der Implosion des Ostblocks verwendete der damalige US-Präsident George H. W. Bush die Redeweise von der Neuen Weltordnung, die von den USA anzuführen sei. Später hieß es aus der Umgebung des mächtigsten Mannes der Welt, es habe sich bei dieser Formulierung um einen PR-Gag gehandelt. 

Neumann hält sich an übliche zeitgeschichtliche Zäsuren: die optimistische Phase von 1990 bis 2000; die hybride Periode von 2001 bis 2010; die Ernüchterung von 2011 bis 2015; den Krisenabschnitt von 2016 bis heute. Die zuletzt genannte Zeitspanne enthält Ereignisse wie den Brexit, die Wahl Trumps und den Aufstieg Chinas, aber auch die Debatten über den Klimawandel. Abschließend folgen Erörterungen unter dem inflationären Modewort „Zeitenwende“. Drei Bedrohungen für den Westen macht der Autor aus: die von außen (vornehmlich China und Rußland), die von innen (soziopolitische immer tiefere Spaltung der Bewohnerschaft) und den Klimawandel.

Natürlich läßt sich eine Schrift über Weltordnung nach den Vorgaben der realistischen Schule der internationalen Beziehungen verfassen. Die Vertreter dieser Richtung sehen Staaten als primäre Akteure der Weltpolitik. Der Autor schreibt sich ja eine „‘realistische’ Analyse“ auf die Fahnen. Eine solche Beschreibung ist jedoch unterkomplex. Man kann kaum davon absehen, daß die gegenwärtige – um so mehr die künftige –Weltordnung maßgeblich von globalen Leitern von Internetriesen und anderen Superreichen gestaltet wird. Bekanntlich werden für das Wohl von Millionen Menschen wichtige UN-Organisationen zu nicht geringen Teilen von einflußreichen privaten Stiftungen finanziert. Führende Politiker und mächtige Konzernbosse treffen sich nicht anläßlich von UN-Tagungen, sondern medienwirksam auf Versammlungen des Weltwirtschaftsforums in Davos. Dessen Wirkmächtigkeit ist jüngst detailliert untersucht worden, exemplarisch in der Arbeit Miryam Muhms „Die Krake von Davos“. Wenn überhaupt, so findet hier eine Institutionalisierung der Post-Pandemie-Ordnung statt.

Neumanns Abhandlung ist nicht sehr mutig, der Verfasser gibt sich quasi als westkritischer Westler zu erkennen. Diese Position ist freilich wenig aussagefähig. Die aktuelle Weltunordnung erfaßt man damit nur teilweise.

Peter R. Neumann: Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört. Rowohlt Verlag, Berlin 2022, gebunden, 336 Seiten, 24 Euro