© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/23 / 17. März 2023

Wünsch-dir-was aus der Mottenkiste
Oskar Lafontaines „Plädoyer für eine Selbstbehauptung Europas“ verharrt im Linkspopulismus der achtziger Jahre
Peter Seidel

Wo er recht hat, hat er recht, der Oskar Lafontaine. So macht er in seiner jüngsten Streitschrift „Ami, it’s time to go!“ zahlreiche richtige und aktuelle Feststellungen, denen man zustimmen kann. Korrekterweise bezeichnet er seine Ausführungen nicht als Konzept, sondern als „Plädoyer“ für eine „Selbstbehauptung Europas“, wie es im Untertitel heißt, denn ein Konzept dafür hat er nicht. Vorherrschend bleiben bei ihm die Fixierungen westdeutscher Linker und der Friedensbewegung aus der Zeit der Nato-Nachrüstung Anfang der achtziger Jahre. Und damit bleibt er leider auch mit seinen Schlußfolgerungen Ausdruck des heutigen Problems: der Kakophonie deutscher Politik und Gesellschaft in Fragen einer Erneuerung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.

Zu Recht spricht Lafontaine davon („Kernthese meiner Überlegungen“), „die deutsche und europäische Außen- und Verteidigungspolitik (müsse sich) grundlegend verändern“, man müsse „eine eigene Sicherheitsstruktur aufbauen“. Wie das „ohne die USA“ gehen soll, sagt er nicht. Auch seine Kritik an US-Stützpunkten in Deutschland wie Ramstein bleibt dadurch wohlfeil. Lafontaine bleibt hier durchgehend im Wünschbaren oder Allgemeinen, etwa mit seinen Vorstellungen von der Durchsetzung des Völkerrechts, seinen Verweisen wahlweise auf Imperialismustheorien à la Lenin („Diese Wirtschaft tötet“) oder die Bibel („Liebet eure Feinde“), eine „soziale Verteidigung“ als „Alternative zur militärischen Verteidigung“, beispielsweise „in Form von Streiks“. Hat er vergessen, wie eine Besatzungsmacht mit Streiks umzugehen pflegt, beispielsweise im ehemaligen Ostblock, in Ostdeutschland, in Polen, in der Tschechoslowakei?

Und damit sind wir auch schon bei seinem Umgang mit der Geschichte. Nicht nur, daß er die Entspannungspolitik der damaligen sozialliberalen Koalition unter Brandt durch Ignorieren ihrer verteidigungspolitischen Seite komplett auf reinen Goodwill reduziert, um sie so zu glorifizieren und als Muster für die heutige Zeit hinzustellen. Er zeigt damit, daß er aus dem Scheitern dieser Politik damals nichts gelernt hat. Und er zeigt vor allem, wie gerade diejenigen, die sich wie er auf die deutsche Geschichte berufen, wenn etwas ihrer Meinung nach nicht getan werden sollte, sich der deutschen Geschichte lediglich als Instrumentenkasten bedienen, das aber auch nur, wenn gerade etwas nicht in ihre Vorstellungswelt paßt, etwa bei der Ablehnung einer aktiven deutschen Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik („Führungsmacht Deutschland“).

Er verbindet den Nato-Rußland-Streit mit alter Pershing-II-Debatte

Doch auch damit ist es leider noch nicht getan. Dies zeigen als Musterbeispiel seine Thesen zu „Kurzstreckenraketen“ an der Nato-Ostgrenze zu Rußland. Sicher wäre eine solche Stationierung falsch, aber gibt es dazu überhaupt Pläne? Lafontaine suggeriert mehr oder weniger, als gäbe es diese Waffensysteme dort bereits. Das kann er nur, indem er strategische Angriffsraketen, Flugabwehrraketen und Raketenartillerie in einen Topf wirft. Den Gipfel seiner Unterstellung erreicht er in der Gleichsetzung solcher Waffen mit den früheren Pershing-II-Raketen aus den achtziger Jahren, die in der Tat damals durchaus eine existentielle Bedrohung der Sowjetunion darstellten.

Dies sind nur einige Beispiele für die Rückwärtsgewandtheit und Vergangenheitsgebundenheit von Lafontaines „Plädoyer“. Er kommt aus seiner Haut nicht heraus. Das ist schade, denn er legt durchaus den Finger in offene bundesrepublikanische Wunden, an denen sich auch kompetentere sozialdemokratische Geister früher schon abgearbeitet haben – und abzuarbeiten versuchen, wie sich heute jedenfalls andeutungsweise wieder zeigt. 

Daß dies bei weitem nicht ausreicht und ein Wandel selbst bei realistischen Ergebnissen Jahre und Jahrzehnte bräuchte, hier etwas zu ändern, darf dabei nicht vergessen werden, genausowenig wie es als Enschuldigung dafür herhalten sollte, gar nichts zu machen oder alte Rezepte aufzuwärmen. Wir werden in Deutschland jedenfalls noch lange mit der Kakophonie der verschiedensten Gruppen mit ihren innenpolitisch dominierten Privatkriegen im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik leben müssen. Dies zeigt nicht nur die jetzt bereits in fünfter Auflage herausgegebene Streitschrift Lafontaines, aus linkspopulistischer Perspektive wohlgemerkt.

Oskar Lafontaine: Ami, it‘s time to go. Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2023, broschiert, 94 Seiten, 14 Euro