© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/23 / 17. März 2023

Handfeste Lügen als Kriegsgrund
Um die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu stoppen, schlug eine von den USA geführte Koalition 2003 gegen den Irak los / Dem Sturz des Regimes Saddam Husseins folgte eine bis heute andauernde Destabilisierung des Mittleren Ostens
Thomas Schäfer

In der Nacht vom 19. zum 20. März 2003 startete eine sogenannte „Koalition der Willigen“ unter amerikanisch-britischer Führung die „Operation Iraqi Freedom“. Zu deren Beginn wurden 36 Marschflugkörper abgefeuert und zwei schwere bunkerbrechende Bomben abgeworfen, um die Kommunikationsinfrastrukturen der irakischen Streitkräfte und mögliche Aufenthaltsorte des Diktators Saddam Hussein im Raum Bagdad zu zerstören. Diesen Attacken folgte der Einmarsch von Bodentruppen von Kuweit und Jordanien aus. 

Aufgrund der eklatanten militärischen Unterlegenheit ihres Gegners konnten die Koalitionstruppen extrem schnell vorrücken. Und auch der Sturm auf die Hauptstadt Bagdad war bereits am 9. April von Erfolg gekrönt – nicht zuletzt deshalb, weil die US-Geheimdienste im Vorfeld mehrere höhere irakische Offiziere bestochen hatten, die Verteidigung zu sabotieren. Der nunmehr Dritte Golfkrieg nach dem Ersten Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak von 1980 bis 1988 und dem Zweiten Golfkrieg zur Befreiung Kuweits nach dem irakischen Überfall 1990 endete faktisch am 14. April 2003 mit der Einnahme der letzten umkämpften Stadt Tikrit.

Nach Ansicht der „Koalition der Willigen“ handelte es sich bei der Invasion um einen legitimen Präventivkrieg, durch den verhindert werden sollte, daß der Irak die USA und andere Staaten mit biologischen, chemischen und nuklearen Waffen angreift oder Terrororganisationen wie die al-Qaida mit derartigen Massenvernichtungsmitteln ausstattet. Allerdings stand die Operation nicht im Einklang mit dem Kapitel VII der UN-Charta. Denn es lag kein entsprechender Beschluß des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vor, und die Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der Charta fehlten ebenfalls. Doch genau das sahen die Regierungen der USA und Großbritanniens anders, wobei sie sich auf die UN-Resolution 1441 vom 8. November 2002 beriefen. 

Colin Powells „Beweise“ erweisen sich samt und sonders als falsch

Diese besagte, daß der Irak unverzüglich allen bislang eingegangenen Verpflichtungen hinsichtlich der Kontrolle und Vernichtung seiner Massenvernichtungswaffen gemäß der UN-Resolution 687 vom 3. April 1991 nachzukommen und den Inspekteuren der United Nations Monitoring, Verification and Inspection Commission (UNMOVIC) sowie der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) uneingeschränkten Zugang zu allen verdächtigen Anlagen zu gewähren habe. Und hiergegen sollte das Regime in Bagdad angeblich verstoßen haben, obwohl es dem UN-Ultimatum schon fünf Tage später folgte. Doch damit nicht genug: Im Zuge der anschließenden Kontrollen fanden die Inspekteure weder Anzeichen für ein bestehendes Atomwaffenprogramm noch Anhaltspunkte für die Produktion von biologischen oder chemischen Waffen. Offen blieb lediglich die Frage nach dem Verbleib einiger kleinerer Altbestände aus der Zeit vor 1998 sowie von 20 Raketen mit einer Reichweite von über 150 Kilometern. Diese sollte aber bis März 2003 geklärt werden, wie der UNMOVIC-Chef Hans Blix im Januar mitteilte.

Ungeachtet dessen präsentierte US-Außenminister Colin Powell dem UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 diverse von der CIA gelieferte „Beweise“ für die Existenz eines geheimen aktuellen irakischen ABC-Waffen-Programms, welche sich späterhin samt und sonders als falsch erweisen sollten. Dabei sahen die Vetomächte Frankreich, Rußland und China sowie auch andere nichtständige Mitglieder des Sicherheitsrates wie Deutschland die angeblich „todsicheren“ und „felsenfesten“ Belege Powells bereits zu diesem Zeitpunkt als nicht ausreichend an. Und tatsächlich stand dann auch im UNMOVIC-Abschlußbericht vom 5. März 2003, daß sich bei den immerhin 550 Inspektionen im Irak während der letzten Monate keinerlei Hinweise auf versteckte B- und C-Waffen oder Langstreckenraketen beziehungsweise gar Nuklearanlagen ergeben hätten. Wie sich 2005 herausstellte, war die CIA auf Lügen von Exilirakern wie dem in Deutschland lebenden Rafid Ahmed Alwan El Dschanabi alias „Curveball“ hereingefallen, welche man in Washington nur zu gern glauben wollte.

Der Mangel an belastbaren Beweisen hinderte die Regierung von George W. Bush indes nicht daran, dem Irak weiterhin zu unterstellen, er habe die UN-Resolution 1441 verletzt, weswegen die Vereinigten Staaten aufgrund der Resolution 687 berechtigt seien, militärische Gewalt anzuwenden, um die geforderte Abrüstung bei den ABC-Waffen durchzusetzen. Dann erging am 17. März 2003 ein Ultimatum an Saddam Hussein, sein Land binnen 48 Stunden zu verlassen, das der Diktator freilich verstreichen ließ. Damit war für die USA und deren Gefolgschaft in der „Koalition der Willigen“ der endgültige Kriegsgrund gegeben.

Krieg führt zur enormen Stärkung des islamischen Terrorismus

Gleichzeitig fanden schon vor dem Einmarsch weltweit Proteste gegen die drohende militärische Intervention statt, welche am 15. Februar in den größten Friedensdemonstrationen seit dem Ende des Vietnamkrieges gipfelten. So versammelten sich allein in Berlin auf den Aufruf von zahlreichen Friedens- oder Menschenrechtsgruppen, Kirchen, Gewerkschaften und parteinahen Organisationen hin etwa eine halbe Million Menschen an der Siegessäule – viele trugen dabei Transparente mit der Aufschrift „Kein Krieg im Irak – Kein Blut für Öl“.

Und auch die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) lehnte einen Beitritt zur „Koalition der Willigen“ ab, indem sie die gleichen Argumente vorbrachte wie andere Kritiker der Invasion im Irak: Es gebe keine völkerrechtliche Legitimation dafür, weil es an klaren Beweisen für eine Bedrohung durch den Irak mangele und die UN-Waffeninspekteure die Möglichkeit zur Fortsetzung ihrer Kontrollen hätten; außerdem sei mit einer Vielzahl negativer Kriegsfolgen zu rechnen. Und die traten dann tatsächlich ein.

Zwar gelang der Sturz des Regimes von Saddam Hussein, aber der Preis dafür war hoch: Im Verlaufe des Krieges und der bis Ende 2011 andauernden Besetzung des Irak durch 36 Staaten der „Koalition der Willigen“ starben rund 4.800 Soldaten der Interventionsmächte und bis zu 71.000 Angehörige der irakischen Streitkräfte oder der Aufstandsbewegung. Die Zahl der getöteten Zivilisten dürfte hingegen noch um einiges höher gewesen sein und wird je nach Quelle mit 115.000 bis eine Million angegeben. Dazu kamen sechs Millionen Binnenflüchtlinge und zwei Millionen Menschen, welche den Irak verließen.

Die materiellen und sonstigen Schäden lassen sich hingegen überhaupt nicht seriös beziffern. Selbst die Angaben über die Kriegskosten der USA von 2003 bis 2011 schwanken zwischen 700 Milliarden und drei Billionen US-Dollar. Darüber hinaus erlitt der Irak einen kulturellen Aderlaß ohnegleichen, denn im Zuge der Invasion wurden Unmengen einzigartiger geschichtlicher Zeugnisse zerstört oder verschwanden auf Nimmerwiedersehen in dunklen Kanälen.

Außerdem stürzte der Krieg weite Regionen des Nahen und Mittleren Ostens ins Chaos und führte zu einer enormen Stärkung des islamischen Terrorismus. Verantwortlich hierfür waren dabei nicht zuletzt die zahlreichen Exzesse der US-Besatzer wie der Abu-Ghuraib-Folterskandal sowie lange nach Kriegsende verübte Massaker an irakischen Zivilisten in Ortschaften wie Haditha und Mahmudiyya, bei denen auch Kinder zu Tode kamen. 

Nach dem sukzessiven Auffliegen der Lügen über die irakische Unterstützung der Terrororganisation al-Qaida und die Existenz von irakischen Massenvernichtungswaffen forderte der frühere Staatsanwalt des Los Angeles County District und Chefankläger im Prozeß gegen die berüchtigte Manson Family, Vincent Bugliosi, 2008 die Todesstrafe für George W. Bush wegen Verschwörung zum Mord an amerikanischen Soldaten. Vor Gericht gestellt und exekutiert wurde letztlich aber nur Bushs Gegenspieler Saddam Hussein, der sich am 13. Dezember 2003 kampflos ergeben hatte und am 30. Dezember 2006 am Galgen des Militärstützpunktes Camp Justice in al-Kazimiyya endete. Damit nahm die Geschichte auch in diesem Fall wieder ihren üblichen Gang, wie er von dem gallischen Heerführer Brennus bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. auf die legendäre Formel „Vae victis!“ (Wehe den Besiegten!) gebracht worden war. 

Foto: US-Außenminister Colin Powell verweist auf Chemiewaffenfunde im Irak, um den Angriff zu rechtfertigen, März 2003: Weltweit die größten Friedensdemonstrationen seit dem Ende des Vietnamkrieges