© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/23 / 17. März 2023

Die internationale Ordnung zerbricht. Wie könnte das politische System der Zukunft aussehen?
Eine Welt am Ende
Felix Dirsch

Fundamentale Neuordnungskonzeptionen setzen sich selten ohne größere Kriege durch. So ist der Ukraine-Krieg vielleicht nur der Vorbote dessen, was uns erwartet. Der Westfälische Friede schuf nach einem grauenvollen Gemetzel ein tragfähig ausbalanciertes System. Die Herrscher der Territorialstaaten wurden zu souveränen Entscheidungsträgern erhoben, die für ständige Zwistigkeiten sorgenden „konfessionellen Fundamentalismen“ (Ernst Nolte) hingegen neutralisiert. Über 150 Jahre später war im Anschluß an die blutigen Revolutionskriege in den Jahren nach 1789 eine veränderte Sicherheitsarchitektur nötig. Neue Staaten und Grenzen entstanden. Die Heilige Allianz, ein Bündnis, das im Kern Preußen, Österreich und Rußland umfaßte, wurde geschlossen, um die Bekämpfung erwartbarer revolutionärer Umtriebe zu institutionalisieren.

Nach den bis dato unbekannten Gewaltausbrüchen im „Großen Krieg“ von 1914 bis 1918 reichten auf Europa begrenzte Einrichtungen mit dem Ziel künftiger Konfliktvermeidung nicht mehr aus. Der Völkerbund erreichte globale Dimensionen, erst recht sein erfolgreicherer Nachfolger, die Vereinten Nationen, nach 1945. Diese Organisation setzte nach dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkrieges als primäres Ziel für ihre Mitglieder das Gewaltverbot durch, was auf der normativen Ebene einen enormen Fortschritt in der internationalen Rechtsentwicklung darstellt.

Mehr noch als durch juristische Vereinbarungen wurde Europa in der Zeit des Kalten Krieges durch die bipolare Ordnung vor größeren Kriegen geschützt. Die Overkill-Kapazitäten der verfeindeten Großmächte beförderten den Trend zu Stellvertreterkriegen. Aus der Konkursmasse des Ostblocks ging die unipolare Ordnung mit der Führungsmacht USA hervor. Das Wort von der Neuen Weltordnung, um 1990 vom damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush mitunter verwendet, machte kurzzeitig die Runde. Die „einzige Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski) litt jedoch bald an einer Überdehnung ihrer Möglichkeiten, so daß sich das Afghanistan-Desaster von 2021 früh abzeichnete. Das Licht erlosch langsam.

Das Ende des unipolaren Herrschaftsmoments zeigte sich unübersehbar, als sich eine andere Großmacht 2022 ebenso militärisch skrupellos gegen das Vordringen gegnerischer Einflüsse wehrte, wie man es lange Zeit nur vom „Imperium USA“ (Daniele Ganser) gewohnt war. Die Vergehen der westlichen Leitmacht gegen das Völkerrecht sind zahlreich. Sie verschob mit ihren Verbündeten die eigene Machtbasis immer mehr nach Osten. Mit einer starken Reaktion der angeblich „bloßen“ Regionalmacht Rußland rechnete man in Washington wohl nicht. Die Antwort jedoch fiel heftiger aus als erwartet.

Die Anzeichen für die Geburt einer neuen Weltordnung mehrten sich bereits in den Tagen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Schon am 4. Februar 2022 verurteilten China und Rußland in einer Erklärung speziell die Nato-Osterweiterung und allgemein zwangsweise herbeigeführte Regimewechsel. Der Einfluß raumfremder Mächte wird zurückgewiesen. Die beiden Signatarstaaten bilden den Kern jener losen Staatengemeinschaft, die man seit über 20 Jahren als BRICS-Gruppe bezeichnet. Die so zusammengefaßten Länder (Brasilien, Rußland, Indien, China und Südafrika) suchen Alternativen zu einer einseitig US-dominierten Globalisierung.

Obwohl wir uns mitten in der Phase der Neuorientierung befinden, zeigt sich bereits eine bestimmte Abfolge. Während anfangs der Hegemon, die USA, noch als unanfechtbar gegolten hatte und von anderen nachgeahmt wurde (bandwagoning), erodierte seine Macht zusehends. Nicht nur die BRICS-Gruppe hinterfragte dessen Legitimität. In einem weiteren Schritt werden Bündnisse geschmiedet, die dem bisherigen Vorherrscher ebenbürtig sind, etwa die russisch-chinesische Allianz. Ein derartiges Ringen, wie es sich derzeit vor aller Augen abspielt, kann drei Szenarien real werden lassen: den Sieg der alten Weltordnung, der die Dominanz des Wertewestens perpetuiert; eine chaotische „Weltunordnung“ (Carlo Masala); oder den Durchbruch zu neuen Konstellationen.

Ein zunehmend multipolarer Aufbau der Welt ist nicht nur als Rückkehr zu historischen Modellen zu begreifen, zu denen die Vereinbarungen im Zuge des Friedens von Münster und Osnabrück 1648 zählen, vielmehr findet ein solcher Umbruch unter den Voraussetzungen der heutigen Globalisierung statt. Insofern helfen der Großraum-Entwurf Carl Schmitts (mit der „volklich“-militärisch überlegenen Macht im Zentrum) und die „Clash“-Theorie Samuel P. Huntingtons (mit dem Faktor Kultur im Mittelpunkt) nur bedingt weiter.

Was bedeutet Multipolarität? Mehrere unterscheidbare Räume sind vorhanden, die jeweils ein eigenes souveränes Zentrum aufweisen. Ein „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (Carl Schmitt) muß rechtlich wie faktisch durchgesetzt werden können. Ein spezifisches Kapitel der praktischen Ausgestaltung solcher Sphären ist die Notwendigkeit eines (einigermaßen ausgeglichenen) militärischen Abschreckungspotentials. An dieser Stelle kommt die Frage nach einem etwaigem Besitz von Kernwaffen ins Spiel.

Darüber hinaus bezieht sich die Unabhängigkeit solcher Räume zuerst auf eine wirtschaftliche Selbständigkeit. Bereits das Swap-Abkommen von 2008 ermöglichte 40 Staaten als Reaktion auf die Finanzkrise den Handelsaustausch in nationalen Währungen abzuwickeln und sich so von der Vorherrschaft des US-Dollars abzugrenzen. Längst besteht ein Rubel-Rupie-Mechanismus zwischen Indien und China. Er dient vornehmlich dazu, russische Energieexporte zu bezahlen. Eine Fülle neuer Zahlungs- und Banksysteme unterminieren so die Dollarhegemonie. Der Ausschluß Rußlands aus dem US-dominierten Swift-System, der nicht einmal vollständig ist, hat die Möglichkeiten des Herrschers im Kreml kaum eingeschränkt. Bereits vor einigen Jahren hatten die BRICS-Staaten eine eigene Bank (NDB) und einen Reservefonds (CRA) aus der Taufe heben lassen.

Der langsame „Abstieg des Westens“ (Joschka Fischer), parallel zum Aufstieg einiger Länder Asiens, kann über eines nicht hinwegtäuschen: Die künftige Weltordnung wird wohl nicht von einer ausschließlich tripolistischen Herrschaft, bestehend aus den USA, China und dem schwächeren Rußland, geprägt sein. Die Schwellenländer, etwa die Türkei und einige afrikanische Staaten, werden ein gehöriges Wort mitzusprechen haben. Weltpolitische Konstellationen dürften unübersichtlicher werden.

Doch der Umbruch wirtschaftlicher Strukturen ist nicht allein ausschlaggebend. Bereits im Kontext der Corona-Zäsur hat man Anzeichen einer Deglobalisierung erkannt. Der Widerspruch gegen die stark US-bestimmte Weltwirtschaft wäre nicht so heftig, könnte er sich nicht auf gewachsene antiglobalistische Traditionen und Einflüsse stützen. Sie sind vornehmlich kulturell fundiert und verstärken den Trend zum Multipol.

Die Beschreibung dieses Widerstandsmilieus bietet Stoff für viele Abhandlungen. Daß der Kremlchef die „Ablehnung jeder eigenen Identität und somit der von Gott geschaffenen Vielfalt“ als Charakteristikum basaler westlicher Tendenzen vor Jahren wiederholt herausgestellt hat, wird nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine von europäischen Rechten höchstens verschämt zitiert. Doch Wladimir Putin führte lediglich Beispiele für eine wesentliche Entwicklungslinie russischer Kultur und Mentalität an. Deren Kern ist weithin antiwestlich, wie schon erregte Debatten in der slawischen Literatur des 19. Jahrhunderts belegen.

Lohnenswert ist ferner ein Blick auf einen anderen Pol der kommenden Weltordnung: Die ideologische Grundlage der chinesischen Herrschaft ist universalistisch, aber keineswegs globalistisch-multikulturell. Unter der sozialistischen Oberfläche regen sich andere Varianten sozialer Kohäsion. Dazu gehört das Bewußtsein von der ethnischen Verwandtschaft der Han-Chinesen, die rund 92 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die chinesische Journalistin Franka Lu beklagte in der Wochenzeitung Die Zeit vom 18. März 2019 die in ihrem Heimatland verbreitete Vorstellung von der Überlegenheit des „Reiches der Mitte“. Der Ahnenkult sei ebenfalls präsent und erschwere eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Erbe. Franka Lu konstatiert in ihrem Beitrag: „Im Einklang mit der Regierungspropaganda erklären viele chinesische Gemeinden im Ausland, Gene, Kultur, Tradition und Geschäftssinn der Chinesen seien von solcher Überlegenheit, daß sie ihren Gastländern viel nützlicher seien als die ‘faulen Schwarzen’ oder die ‘lästigen Muslime’ (…). Die chinesische Regierung hat den von westlichen Liberalen propagierten universellen Werten der Aufklärung den ideologischen Krieg erklärt.“ Außerdem heißt es: „Das Bild, das wir dort entstehen sehen, weist nicht die Richtung einer offenen Gesellschaft mit lebendigem Austausch unter den ethnischen Gruppen, mit Gleichberechtigung ungeachtet der sozialen Herkunft, in der universelle Werte der westlichen Welt Geltung hätten.“ Lus Kommentar ist aus linksliberaler Perspektive zugespitzt, bestätigt aber allgemeine Wahrnehmungen.

Die nationale Wende in Indien seit 2014 unter dem Regierungschef Narendra Modi wird in westlichen Medien oft thematisiert. Die antiglobalistische Ausrichtung des Regimes ist mit Händen zu greifen. Eine pointierte Bemerkung der Bundeszentrale für politische Bildung über die Kraft fortwirkender Traditionen in diesem Land: „An der grundlegenden Zielsetzung des hindu-nationalistischen Projekts mit der Homogenisierung des Hindu-‘Volkskörpers’ hat sich seit den damaligen Tagen wenig geändert.“ Auch im Westen brodelt es. Über populistische Regungen in den USA und Ungarn ist zuletzt viel geschrieben worden. Offenkundig ist, daß eine stärkere multipolare Ordnung auf genuinen Wurzeln und eigener Traditionspflege aufbauen kann und nicht nur ökonomische Autarkie einschließt.

So manifestiert sich der eigentliche weltpolitische Umbruch unserer Tage jenseits des vieldiskutierten Davoser „Great Reset“, in dessen Nukleus das Ziel eines digitalen Kontroll-, Überwachungs-, Steuerungs- und Indoktrinationssystems aufscheint – ein Sammelsurium von vagen Postulaten für eine bessere Welt, deren Hohlheit sich im Ernstfall offenbart. Von Panzern mit Solarantrieb an der ukrainischen Front hat man noch nichts gehört. Pläne über Frauenquoten in den Kampfeinheiten genießen dort ebenfalls keine Priorität. Wenn der ukrainische Präsident in einer deutsch formulierten Pressemitteilung kürzlich von „Ukrainer:innen“ gesprochen hat, dürften diese Avancen an den Wertewesten, sofern überhaupt registriert, in seiner Umgebung eher für Kopfschütteln gesorgt haben.






Prof. Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, lehrt Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Politische Theorie in Armenien. Er gab zuletzt mit David Engels das Buch „Gebrochene Identität? Christentum, Abendland und Europa im Wandel“ heraus.