Ein Buch löste 1999 eine Debatte aus, die heute schon wieder vergessen ist, aber angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine eine neue Aktualität bekommen hat. Damals hatte sich der deutsche Schriftsteller W. G. Sebald unter dem Titel „Luftkrieg und Literatur“ über die nach seiner Meinung mangelhafte literarische Verarbeitung der Flächenbombardements deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg beklagt. Sebald warf den deutschen Schriftstellern vor, sie hätten es seinerzeit versäumt, der Nachwelt ein Bild des katastrophalen Ausmaßes der Zerstörungen zu hinterlassen.
Der ukrainische Filmemacher Sergei Loznitsa hat sich nun Sebalds Buch vorgenommen und deutsches und britisches Archivmaterial zu einem Dokumentarfilm über den Luftkrieg gegen die Bevölkerung zusammengestellt. Er hat gewissermaßen nachgeholt, was die deutschen Schriftsteller verpaßt haben.
Der ukrainische Regisseur hat jegliche Kommentierung unterlassen
Dabei ist Loznitsa eine beeindruckende, wiewohl oft schwer zu ertragende Schilderung eines Vernichtungskrieges gelungen, in der er sich konsequent weigert, die Schuldfrage zu stellen. Er vermeidet eine genaue chronologische Schilderung. Denn ihm geht es nicht um die Frage, wer zuerst bombardiert hat und wer darauf mit gleicher Münze geantwortet hat, sondern um die Darstellung einer Eskalation. Im Film spricht Goebbels vom „Gegenterror“ als dem einen wirksamen Mittel gegen den „britisch-amerikanischen Bombenterror“, während auf britischer Seite von der wachsenden Überlegenheit der eigenen Waffen die Rede ist.
Loznitsa hat jegliche Kommentierung unterlassen und unterscheidet sich somit wohltuend von den zahlreichen Dokumentationen, die derzeit im Fernsehen den Zweiten Weltkrieg zu erklären versuchen. Statt auf wohlfeiles Expertenwissen greift der Film auf wenige Ansprachen von Churchill, General Montgomery oder Goebbels zurück. Im übrigen vertraut er auf die Kraft der sorgfältig restaurierten Bilder, die ausschauen, als wären sie gerade zum ersten Mal aus dem Kopierwerk gekommen. Die Vorkriegsszenen sind behutsam mit Tönen unterlegt, was mancher Film-Purist kritisieren könnte, aber für die Kinoauswertung wohl doch nötig erscheint. Idyllisch schaut die friedliche Vorkriegswelt auf dem Land und in den jahrhundertealten Städten zu Beginn aus. Bedrohlich wie in einem Horrorfilm wirken die anschließenden Aufnahmen von nächtlichen Lichtblitzen, begleitet vom Donner der einschlagenden Bomben. Auch der ganz gewöhnliche Arbeitsalltag beim Beladen der Flugzeuge und in den Rüstungsfabriken wird gezeigt. Ein Höhepunkt ist die mit englischem Humor unterlegte Rede General Montgomerys, in der er die Bedeutung des gegenseitigen Kennenlernens betont. Denn er müsse sich auf die Rüstungsarbeiter verlassen können und die auf die Kämpfer, wenn sie deren Produkte anwendeten.
Als Glücksgriff muß die Wahl des Cello Octets Amsterdam für die zurückhaltende musikalische Untermalung angesehen werden. Sie verstärkt die Stimmung, die einen bei dem Anblick der zahllosen Leichen und den verbliebenen Außenwänden der Häuser befällt, in denen Menschen wohnten und arbeiteten.
Die Bevölkerung der Städte mit Kriegsindustrie müsse nur die Städte verlassen und auf die Felder gehen. Von dort könne sie in der Ferne ihre Häuser brennen sehen, hatte Churchill sarkastisch verkündet und gedroht, Lübeck, Rostock und Köln seien erst der Anfang der Bombardements gewesen. Daß es nicht bei den Städten mit Kriegsindustrie geblieben ist, dürfte mittlerweile jedem bekannt sein.
Der in der Sowjetunion aufgewachsene und derzeit in Berlin lebende Mathematiker und Regisseur Loznitsa hat sich in Spielfilmen kritisch mit dem Zustand der russischen Gesellschaft auseinandergesetzt und als Dokumentarist des Zweiten Weltkrieges mit Originalmaterial an das Leben im belagerten Leningrad und an das Massaker von Babi Yar erinnert. In „Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung“ fragt er, ob ein massiver Angriff auf die Zivilbevölkerung moralisch vertretbar ist. „Die Idee, Mittel des technologischen Fortschritts zu nutzen, um eine Zivilbevölkerung zu terrorisieren und ihr Lebensumfeld zu zerstören, wurde sowohl von den Deutschen als auch von den Alliierten aufgegriffen“, sagt er in einem Interview. „Sobald die technischen Möglichkeiten vorhanden waren, nutzten die Menschen sie für Krieg und Zerstörung.“
Der Film gibt eine klare Antwort und befördert zwei Erkenntnisse. Zum einen wird die traumatische Erfahrung des Kriegsendes deutlich, die nur in einem großen Verdrängungsakt als eine Befreiung bezeichnet werden kann. Zum anderen sind aktuell die Konsequenzen zu bedenken, die sich aus der Dämonisierung eines militärischen Gegners ergeben können.
Kinostart ist am 16. März 2023